Neues aus der Zwangskörperschaft

Wie bescheiden muß ein Reformansatz sein?

Ein Beschluß des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen gegen den Allgemeinen Studierendenausschuß (AStA) der Universität Münster rückte diesen Sommer den Streit um das politische Mandat der Studierendenvertretungen wieder in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Zuvor hatten die neuen Hochschulgesetze Berlins (1991) und Niedersachsens (1994) für Aufsehen gesorgt: Reformorientierte StudierendenvertreterInnen feiern diese gerne als Legalisierung des politischen Mandats der Verfaßten Studierendenschaften (VS). Wieviel Bewegung ist wirklich in den alten Streit um das politische Mandat gekommen?

1979 beendete das Bundesverwaltungsgericht eine langjährige juristische Diskussion mit einem Grundsatzurteil. Es entschied, daß „das allgemeinpolitische Mandat der Studentenschaft, verstanden als nachhaltige und uneingeschränkte Kundgabe nichthochschulbezogener, allgemeinpolitischer Meinungen und Forderungen“, gegen die Verfassung verstoße.1 Die rechtliche Kategorie eines „(allgemein)politischen Mandats“, das den VS im Gegensatz zu einem hochschulpolitischen Mandat nicht zustehe, haben Rechtslehre und Rechtsprechung bereits in den 60er Jahren erfunden. Bis dahin war es ganz selbstverständlich gewesen, daß die von Korporationen, RCDS und anderen konservativen Kräften dominierten ASten Fackelzüge anläßlich des 17. Juni veranstalteten oder zu Demonstrationen für die Wiedervereinigung aufriefen. Erst als in den Organen der VS im Zuge der Studierendenbewegung eine gesellschaftskritische Orientierung Fuß faßte, wurde deren Politik nicht nur zum Politikum, sondern gleich zu einem Fall für die politische Justiz. Den von den gewerkschaftlich orientierten Studierendenverbänden Marxistischer Studentenbund (MSB) Spartakus und Sozialistischer Hochschulbund (SHB) getragenen ASten, die in der ersten Hälfte der 70er Jahre die hochschulpolitische Landschaft bestimmt hatten, war es häufig gelungen, ein überregionales Presseecho und breite Solidarität aus dem gesamten gesellschaftlichen Reformspektrum zu erreichen. Dieses öffentliche Interesse ließ gegen Ende der 70er Jahre nach – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als die Repressionen gegen die VS qualitativ verschärft wurden. Bisher hatten die Rechtsaufsichtsbehörden der VS (in der Regel die Hochschulleitungen) bzw. die Justiz politische Meinungsäußerungen von VS mit Ordnungsgeldern sanktioniert und waren im Einzelfall so weit gegangen, die gewählte Studierendenvertretung zu suspendieren und einen „Staatskommissar“ einzusetzen.2 Ab 1978 trieb die Justiz die Disziplinierung der VS weiter voran zur persönlichen strafrechtlichen Verfolgung von Studierendenvertreterlnnen:3 Ihnen warf man vor, z.B. durch Finanzierung von Flugblättern mit „allgemeinpolitischem“ Inhalt Studierendenschaftsgelder „veruntreut“ zu haben. Wenn nun im weiteren Verlauf der 80er Jahre bis heute tatsächlich ein allmählicher Rückgang repressiver Maßnahmen gegen die VS zu beobachten ist, so ist dies auf zweierlei zurückzuführen:- Zum einen arrangierten sich viele VS angesichts einer „gefestigten Rechtsprechung“ zunehmend mit den juristischen Restriktionen, indem sie ein politisches Mandat nicht mehr ausdrücklich beanspruchten und den Beanstandungen der Rechtsaufsicht keinen (rechtlichen) Widerstand entgegensetzten. Die direkten politischen Forderungen überließen sie in einer Art inneren Arbeitsteilung ihren studentischen Verbänden. – Zum anderen hat eine allmähliche Mäßigung der politischen Orientierungen der VS dazu geführt, daß deren politische Äußerungen heute nicht mehr so grundsätzlich quer zum herrschenden Diskurs liegen, wie dies noch in den 70er Jahren der Fall war. Damit reduziert sich für die Herrschenden – wie vor 1968 – die Notwendigkeit, das politische Mandat der VS zu bekämpfen.

Disziplinierung von Sozialbereichen

Wie begründet nun die in der Rechtswissenschaft „herrschende Lehre“4 ihre Auffassung, daß den VS kein allgemein-politisches Mandat zustehe? Zunächst könnte man ja vermuten, daß sich die VS auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit – Art. 5 Abs. I des Grundgesetzes (GG) – berufen könnten. Die herrschende Lehre spricht aber den VS grundsätzlich die Berechtigung ab, sich auf Grundrechte zu berufen.5 Die VS wird der (mittelbaren) Staatsverwaltung zugerechnet und im Hinblick auf die Grundrechte nicht anders behandelt als eine staatliche Behörde. Da nach bürgerlich-liberalem Grundrechtsverständnis Grundrechte primär Rechte der Gesellschaft gegen den Staat sind, nicht aber innerhalb der mit dem Staat gleichgesetzten öffentlichen Sphäre wirken, kommen VS nicht als Grundrechtsberechtigte, sondern nur als potentielle GrundrechtsverletzerInnen in Betracht. Die Zugehörigkeit der VS zur Staatsverwaltung leitet die herrschende Lehre aus deren Charakter als öffentlich-rechtliche Körperschaften ab. Entgegen der im 19. Jahrhundert wichtigen Selbstverwaltungsfunktion der Körperschaft hob Ernst Forsthoff, einflußreicher deutscher Verwaltungsrechtler der Bundesrepublik sowie schon zuvor der faschistischen NS-Diktatur, als neue Funktion der öffentlich-rechtlichen Körperschaft die „Disziplinierung von Sozialbereichen“ hervor:6 So sollte der Staat etwa den Bereich der Wirtschaft durch das berufsständische Kammerwesen disziplinieren. Dieser Disziplinierungsfunktion hat sich der faschistische Korporativismus in besonders exzessiver Weise bedient. Nach den gescheiterten Ansätzen in der Weimarer Republik war es in Deutschland der faschistische Staat, der 1933 die VS erstmals auf einer einheitlichen gesetzlichen Grundlage einführte – als in die staatliche Befehlshierarchie eingebundene, öffentlich-rechtliche Körperschaften.7 Auf diese Funktionalisierung der Körperschaften für den Staat baute die Verwaltungsrechtslehre der BRD auf und entwickelte sie zum Instrument der „mittelbaren Staatsverwaltung“ weiter, einer bestimmten Verwaltungsorganisation, derer sich der Staat um praktischer Vorteile willen bedient: etwa dem der Dezentralisierung.8 Über Selbstverwaltungsrechte verfügt die öffentlich-rechtliche Körperschaft demnach nicht um der Partizipationsrechte ihrer Mitglieder willen, sondern um eine effizientere Staatsverwaltung zu ermöglichen. Diese überkommene Lehre, deren Wurzeln vor unser geltendes Verfassungsrecht zurückreichen, wurde im Streit um die Rechtmäßigkeit des politischen Mandats früh kritisiert.9 Dem „etatistischen“ Verständnis von den VS als Teil der mittelbaren Staatsverwaltung setzten kritische JuristInnen eine „kollektivgrundrechtliche Betrachtungsweise“ entgegen.10 Nach Art. 19 Abs. 3 GG gelten Grundrechte „auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind.“ Wie auch die herrschende Lehre konzediert, können hierzu juristische Personen des öffentlichen Rechts wie Anstalten (Rundfunkanstalten) oder Körperschaften (Universitäten) gehören. Ulrich K. Preuß rechnet hierzu konsequent die VS: Sie könnten sich unmittelbar auf die Wissenschaftsfreiheit (Art.5 Abs.3 GG) und mittelbar auf die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. I GG) berufen, da sie – als kollektive Grundrechtsträgerinnen – für die „Institutionalisierung der individuellen Lernfreiheit“ der Studierenden sorgen.11 Mittels einer stark auf die HochschullehrerInnen zugeschnittenen Auslegung der Wissenschaftsfreiheit12 lehnt dagegen die herrschende Lehre die Anwendbarkeit dieses Grundrechts auf die VS ab. Schon der Begriff „politisches Mandat“ selbst legt eine „etatistische“ Sicht der Dinge nahe: „Mandat“ wirft nicht die Frage nach einem (Grund-)Recht der VS zu politischen Stellungnahmen auf, sondern nach einem Auftrag (Mandat) an die VS.13 Es wird nicht gefragt, ob der VS ausnahmsweise dieses Recht nicht zusteht, sondern, ob der VS ausnahmsweise ein entsprechender Auftrag – etwa per Gesetz – erteilt wird.

Grundrechtsverletzung durch Zwangskörperschaft

Die herrschende juristische Lehre sieht die VS nicht nur außerstande, sich auf Grundrechte zu berufen, sondern versetzt sie zugleich in die Lage, wie eine staatliche Behörde die Grundrechte anderer zu verletzen. Eine solche Grundrechtsverletzung soll dann eintreten, wenn ein VS-Organ eine allgemein-politische Meinung äußert. Diese eigentümliche Vorstellung basiert auf der zusätzlichen Annahme, daß es sich bei den VS nicht nur um Körperschaften, sondern um „Zwangskörperschaften“ des öffentlichen Rechts handle. Ihre Mitglieder sollen ihr nicht aufgrund eines freiwilligen Beitritts angehören, sondern sollen zwangsweise inkorporiert worden sein. Deshalb könne – anders als bei einer freien Vereinigung – ein Mitglied der Zwangskörperschaft VS nicht aus dieser austreten, wenn er sich von einer allgemeinpolitischen Äußerung des Verbands distanzieren möchte. Die Vorstellung von der VS als eine Zwangskörperschaft beruht auf einer „logischen Sekunde“, die JuristInnen hilfsweise zwischen die freiwillige Immatrikulation einer studierwilligen Person in die Hochschule und deren Eingliederung in die VS schalten.14 Tatsächlich aber sind beide Vorgänge sachlich und rechtlich miteinander verbunden.15 Der Eintritt in die VS, einer mit eigenen Rechten ausgestatteten Teilkörperschaft der Hochschule, ist ebenso wenig wie der Eintritt in eine bestimmte Fakultät der Hochschule vom zugrundeliegenden Akt des Hochschulzugangs zu trennen. Der „Studierendenschaft“ im Sinne einer Statusgruppe der Gruppenhochschule gehört jedeR StudentIn, auch in Baden-Württemberg und Bayern, wo die VS 1974 bzw. 1977 gesetzlich abgeschafft worden sind, an. Wird diese Gruppe aufgewertet zu einer (Teil)Körperschaft mit Selbstverwaltungsrechten, sollen aber plötzlich die Grundrechte ihrer Mitglieder gefährdet sein! Welches Grundrecht soll nun eine VS durch eine allgemeinpolitische Meinungsäußerung eigentlich verletzen können? Seit dem erwähnten Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts wird hierfür allgemein das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art.2 Abs. I GG) bemüht. Es hat bei den VerfassungsjuristInnen als Auffanggrundrecht für alle in den übrigen Grundgesetzartikeln nicht verbürgten Freiheitsrechte herzuhalten. In diesem Fall soll es das „Recht, von der Mitgliedschaft in einem „unnötigen“ Verband verschont zu bleiben“, garantieren.16 Für einen verhältnismäßigen – und somit erlaubten – Grundrechtseingriff hält das Bundesverwaltungsgericht, daß der Gesetzgeber überhaupt VS mit der Pflichtmitgliedschaft aller eingeschriebenen Studierenden einrichtet – unter JuristInnen keineswegs selbstverständlich17. Als verhältnismäßig gilt ferner, daß die VS Aufgaben im Bereich der studentischen Belange wahrnehmen und die hochschulpolitischen Interessen ihrer Mitglieder vertreten – also ein hochschulpolitisches Mandat der VS. Denn es liege im „öffentlichen Interesse“, sei daher notwendig, daß Hochschule und Staat über einen „Ansprechpartner“ verfügen können, „der das Gesamtinteresse der Studentenschaft repräsentiert.“18 Ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Grundrechte ihrer Mitglieder soll allerdings bei einem allgemeinpolitischen Mandat der VS vorliegen, also wenn die VS „zu beliebigen Fragen der Politik Stellung“ nehmen könnten.19 In dieser Unterscheidung liegt m.E. die größte Schwäche der herrschenden Lehre. Es geht dabei freilich nicht allein um das Problem, „daß es in der Praxis auch hin und wieder Schwierigkeiten machen kann, erlaubtes und verbotenes Verhalten zu unterscheiden“, was die Justiz selbst eingesteht.20 Die Unterscheidung „hochschulpolitisch“ versus „allgemeinpolitisch“ als Kriterium für die Legalität politischer Meinungsäußerungen von VS ist vielmehr im Ansatz verfehlt. Warum wird dissentierenden Studierenden gegenüber allgemeinpolitischen Meinungsäußerungen der VS „Schutz“ gewährt, gegenüber hochschulpolitischen aber nicht? Die Notwendigkeit des hochschulpolitischen Mandats könnte nämlich genau so gut angezweifelt werden wie die des allgemeinpolitischen Mandats: Auch in den Bundesländern ohne VS finden die Studierenden Mittel und Wege, ihre hochschulpolitischen Forderungen zu formulieren; umgekehrt verhalten sich zahlreiche VS abstinent gegenüber den aktuellen Diskussionen einer Umstrukturierung des Hochschulwesens. Auch das Argument, ein Pflichtverband mit allgemeinpolitischem Mandat wäre ein ständestaatliches Element in unserer pluralistischen Gesellschaftsordnung,21 läßt sich leicht entkräften. Fügen sich Pflichtverbände mit einem inhaltlich begrenzten, nur „ständische“ Forderungen umfassenden, (hochschul)politischen Mandat nicht viel mehr in die autoritäre Struktur einer ständestaatlichen oder korporativistischen Gesellschaftsordnung ein? Das Verbot allgemeinpolitischer Meinungsäußerungen läuft im Ergebnis darauf hinaus, daß nur ein bestimmtes inhaltliches Spektrum an Hochschulpolitik erlaubt ist: Eine Hochschulpolitik z.B., die einen Zusammenhang zwischen BAföG-Kürzungen und der Benachteiligung von Frauen an der Hochschule einerseits und gesamtgesellschaftlichen Sozialabbau und Sexismus oder – auf einer allgemeineren Ebene – den Folgen einer kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft andererseits erkennt, wäre verboten. Eine Hochschulpolitik aber, die diese Zusammenhänge leugnet, ist erlaubt. So verfügt der christdemokratische Studierendenverband RCDS sehr wohl über eine ausgearbeitete gesellschaftliche Programmatik: hieraus leitet sich aber gerade ab: „Partizipation ist nur im Rahmen der Funktionalität des jeweiligen Teilbereiches möglich.“22 Das 1993 im Auftrag des hessischen Wissenschaftsministeriums erstattete Rechtsgutachten von Erhard Denninger beansprucht, durch eine methodische Vermittlung von etatistischer und kollektivgrundrechtlicher Auslegung des Studierendenschaftsrechts neue Spielräume für die politische Betätigung der VS zu begründen.23 Auch dies bringt aber im Ergebnis nicht mehr, als eine Art Katalog von erlaubten, da mit studentischen Belangen in Beziehung stehenden, und verbotenen Meinungsäußerungen hervor.24 Erlaubt ist für Denninger etwa, „gegen „Ausländerfeindlichkeit“ und im Zusammenhang damit verübte Straftaten Stellung zu nehmen“; verboten ist, „die Außenpolitik der Bundesregierung kritisch zu kommentieren“.25 Warum? Weil im ersten Fall „Grund- und Menschenrechtsverletzungen in Rede stehen, welche Rechte betreffen, die der Wissenschaftsfreiheit „benachbart“ oder „verwandt“ sind“.26 Diese Begriffsakrobatik macht deutlich, daß die Trennung der allgemeinen von der hochschulbezogenen Politik, selbst Politik – und zwar „Allgemeinpolitik“ – ist.

Wie bescheiden muß ein Reformansatz sein?

In eine ähnliche Richtung wie Denninger, hin zu einer Erweiterung des politischen Handlungsspielraums der VS, zielen gesetzgeberische Initiativen zur Liberalisierung des Studierendenschaftsrechts in einzelnen Bundesländern. Haben die rot-grünen Landesregierungen in Niedersachsen und Berlin das allgemeinpolitische Mandat der Studierendenschaft eingeführt? § 18 Abs. 2 des Berliner Hochschulgesetzes vom 12.10.1991 lautet: „Die Studentenschaft hat die Belange der Studenten und Studentinnen in Hochschule und Gesellschaft wahrzunehmen und die Verwirklichung der Ziele und Aufgaben der Hochschule zu fördern. In diesem Sinne nimmt sie im Namen ihrer Mitglieder ein politisches Mandat wahr.“ Dem entspricht fast im Wortlaut §44 Abs.3 des Niedersächsischen Hochschulgesetzes vom 21.01.1994 (Sätze 1 und 2). Darüber hinaus ist dort zu lesen (Sätze 4 und 5): „Die Studentenschaft kann auch zu allen Fragen Stellung nehmen, die sich mit der gesellschaftlichen Aufgabenstellung der Hochschulen sowie mit der Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der Abschätzung ihrer Folgen für die Gesellschaft und die Natur beschäftigen. Sie unterrichtet die Hochschule und Öffentlichkeit über ihre Arbeit.“ Ähnliche Formulierungen wurden mittlerweile in das Bremische (§45 Abs. 2) und Hamburgische Hochschulgesetz (§131 Abs. 1) aufgenommen. Erkennbar ist das Bemühen, die Möglichkeiten zur politischen Betätigung von VS zu erweitern, ohne dabei aber die von den RichterInnen gezogenen Grenzen zu überschreiten: Die neuen Gesetze erteilen ein politisches Mandat, soweit der Bezug zum Hochschulwesen gewahrt bleibt. Ein bescheidener Ansatz, der letztlich nicht mehr Freiraum bringt, als bisher schon aus den „hochschulpolitischen Belangen“ oder aus der in fast allen Hochschulgesetzen genannten Aufgabe der „staatsbürgerlichen Bildung“ ableitbar gewesen wäre. Diese Ableitung wird nun aber durch den Gesetzgeber selbst vorgeschrieben und bleibt nicht den RichterInnen überlassen. Hierin besteht der demokratische Fortschritt der Gesetzesnovellen. Daß dieser Reformansatz nicht bescheiden genug sein könnte, deutet der erwähnte jüngste Beschluß des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts (OVG) an.27 Es handelt sich dabei um eine einstweilige Verfügung, die Entscheidung in der Hauptsache steht aus; der Analyse des Beschlusses darf also keine zu hohe Bedeutung beigemessen werden. Das Gericht untersagt dem AStA der Universität Münster bei Androhung eines Ordnungsgeldes in Höhe von 5 bis 500.000 DM, „politische Erklärungen, Forderungen und Stellungnahmen abzugeben, die nicht spezifisch und unmittelbar hochschulbezogen sind.“28 Dies ist nun leider nichts Ungewöhnliches. Die Besonderheit des OVG-Beschlusses besteht in dem sichtbar gewordenen Versuch, liberale Bestimmungen des Studierendenschaftsrechts mit juristischer Spitzfindigkeit zu umgehen. Lange vor rot-grünen Reformambitionen wurde in das nordrhein-westfälische wissenschaftliche Hochschulgesetz (seit 1994: Universitätsgesetz – UG) folgende Norm aufgenommen: „Die Studentenschaft fördert auf der Grundlage der verfassungsmäßigen Ordnung die politische Bildung, das staatsbürgerliche Verantwortungsbewußtsein und die Bereitschaft zur aktuellen Toleranz ihrer Mitglieder.“ (§71 Abs. 3) Der AStA der Universität Münster sah in dieser Bestimmung eine rechtliche Grundlage, „auf deren Basis wir allgemeinpolitische Themen mit herausragendem Interesse auch und gerade für Studierende dokumentiert, aber nicht kommentiert haben.“29 Das OVG sieht in dieser Norm aber einen Widerspruch zum höherrangigen Verfassungsrecht. Allgemeinpolitische Stellungnahmen der VS, wozu das Gericht auch die Dokumentation von Texten mit allgemeinpolitischem Inhalt, etwa ein Interview mit Exilkurden oder eine Satire mit dem Titel „Wie ich einmal bei der RAF war“30 rechnet, könnten gesetzlich nicht erlaubt werden. Diese Argumentation beruht letztlich auf der dargestellten rechtlichen Sichtweise auf das politische Mandat der VS als eine Grundrechtsverletzung. Weder durch eine Änderung des Landeshochschulrechts, noch durch eine Änderung des Hochschulrahmengesetzes soll das politische Mandat legalisiert werden können, da dies gegen ein Grundrecht verstieße und damit verfassungswidrig wäre. Eine weitere Konsequenz dieser Lehre ist, daß sie jedeN einzelneN StudierendeN berechtigt, gegen behauptete Grundrechtsverletzungen eines VS-Organs gerichtlich vorzugehen.31 Diese klandestine Form der Popularklage ist im übrigen im Verwaltungsverfahrensrecht nirgendwo vorgesehen. In der Praxis sieht dies meistens wie in Münster 1994 aus: Ein Mitglied eines bei der letzten Studierendenschaftswahl unterlegenen konservativen Studierendenverbands verhindert die Politik der von der Mehrheit der Studierenden gewählten Studierendenvertretung auf dem Rechtsweg. Das Gericht hätte, wie es das Grundgesetz in Art. 100 vorsieht, die als verfassungswidrig beargwöhnte Gesetzesnorm dem Bundesverfassungsgericht zur Normenkontrolle vorlegen können. Das OVG geht aber einen anderen Weg: Es nimmt eine „verfassungskonforme Auslegung“ des §71 Abs.3 UG vor und gelangt zu dem Ergebnis, daß es „sich hierbei nicht um eine weitergehende Aufgabe der Studentenschaft handelt“,32 braucht der Vorschrift also keine weitere Beachtung zu schenken. Damit ist der Weg vorgezeichnet, auf dem auch Verwaltungsgerichte in Niedersachsen oder Berlin rot-grüne Reformimpulse aus den Hochschulgesetzen weginterpretieren können.

Anmerkungen

1) Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE) Bd. 59, S. 231 ff (231 f) 2) Bundesweite Aufmerksamkeit erregte 1974 die Absetzung des AStA der Universität Marburg. Die juristische Auseinandersetzung ist dokumentiert in: Demokratie und Recht 1975, S. 383ff 3) M. Breitbach: Die Studentenschaften im Strudel der Kriminalisierung, in: Demokratie und Recht 1982, S. 243ff 4) Die „herrschende Lehre“ oder „herrschende Meinung“ ist eine Spezialität der Rechtswissenschaft. Sie ist zunächst in dem Sinne herrschend, daß sie die verbindliche Auslegung des Rechts vorgibt. In einem weiteren Sinne trägt sie so zur Vermittlung gesellschaftlicher Herrschaft bei. 5) Etwa H. Krüger: Studentische Selbstverwaltung, in: Ch. Flämig u.a. (Hrsg.): Handbuch des Wissenschaftsrechts, Bd. 1, Berlin/Heidelberg/New York 1982, S. 636ff; W. Thieme: Deutsches Hochschulrecht, 2. Aufl. Köln u.a. 1986, S. 699ff; H. Maurer: Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl. München 1988, S. 491ff; B. Pieroth/B. Schlink: Grundrechte Staatsrecht II, 8. Aufl. Heidelberg 1992, S. 45ff 6) E. Forsthoff: Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 10. Aufl. München 1973, S. 476 7) Vgl. H. Bartsch: Die Studentenschaften in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. Bonn 1971, S. 19ff 8) Vgl. etwa H.J. Wolff/O. Bachof/R. Stober: Verwaltungsrecht II, 5. Aufl. München 1987, S. 2ff 9) U.K. Preuß: Das politische Mandat der Studentenschaft, Frankfurt a.M. 1969; H. Ridder/K.-H. Ladeur: Das sogenannte Politische Mandat von Universität und Studentenschaft, Köln 1973; F. Hase/K.-H. Ladeur: Das „Politische Mandat“ der VS, in: Das Argument 109 (1978), S. 373ff; L. Zechlin: Die Rechtsprechung zum politischen Mandat der verfaßten Studentenschaft, in: Demokratie und Recht 1978, S. 281 ff 10) Begrifflichkeiten nach E. Denninger: Das politische Mandat der Studentenschaft, in: Kritische Justiz 1994, S. 1ff 11) Preuß, a.a.O. S. 54ff (58), 95ff 12) Diese manifestiert sich im „Hochschulurteil“ des Bundesverfassungsgerichts von 1973, in: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE), Bd. 35, S. 79ff 13) Vgl. Preuß, a.a.O., S. 14f; Ridder/Ladeur a.a.O., S. 8f. Dennoch verzichte ich, um die Kommunikation nicht weiter zu erschweren, sowohl auf die Erfindung eines Alternativbegriffs als auch auf die Verwendung von Verlegenheits-Gänsefüßchen. 14) Zechlin, a.a.O., S. 287 15) Vgl. Preuß, a.a.O. S.77ff 16) BVerwGE, Bd. 59, S.233 17) Vgl. Krüger, a.a.O., S. 643f 18) BVerwGE, Bd. 59, S. 237 19) Ebd., S. 238 20) Ebd., S. 240f 21) Bereits 1968 erklärte die KultusministerInnenkonferenz: „Ein allgemein-politisches Mandat der Studentenschaften als eines körperschaftlich organisierten Verbandes im öffentlich-rechtlichen Bereich verstößt gegen das Prinzip der Repräsentation des ganzen Volkes durch die Parlamente. Eine ständische Komponente würde unzulässig in unsere demokratische Grundordnung eingeführt.“ Zit. nach Krüger, a.a.O., S. 656, Fn 130 22) Grundsatzprogramm des RCDS vom 06.03.1976, These Nr. 36 23) E. Denninger: Das „politische Mandat“ der Studentenschaft und andere Möglichkeiten studentischer Mitwirkung in der Hochschule, Frankfurt a.M. 1993. In gekürzter Form veröffentlicht als Denninger, a.a.O. 24) Ebd., S. 26ff bzw. S. 15ff 25) Ebd., S. 33ff bzw. S. 20 26) Ebd. 27) Beschluß des OVG vom 6.9.1994, Aktenzeichen 25 B 1507/94 28) Ebd. S. 1f 29) Presseinformation vom 19.09.1994 30) Diese Satire hat inzwischen sogar ein Ermittlungsverfahren nach §129a StGB ausgelöst. 31) Vgl. F. Schreiber: Altes und Neues aus der Anstalt, in: Forum Recht 1994, S. 40ff (41f) 32) Beschluß des OVG vom 6.9.1994, a.a.O., S.5

Andreas Keller, Forum Wissenschaft 4/94