Klage gegen verbindungskritische Seiten auf nadir.org zurückgewiesen!

Jost B. wollte erreichen, dass die Fakten über seine Person, die die verbindungskritische Initiative „Anarcho Randalia“ in ihrer Zeitschrift „Burschen Raus!“ 1997 veröffentlicht hatte, nachträglich von den auf nadir archivierten Seiten gelöscht werden. Eine Zulasssung der Klage hätte einen erheblichen Eingriff in die Möglichkeiten der KritikerInnen studentischer Korporationen bedeutet. Eine auf Fakten beruhende Kritik rechtsextremer Aktivitäten von Verbidungsstudenten und Verbindungen im Medium Internet hätte zur Disposition gestanden.

Wir dokumentieren die Pressemitteilung der BetreiberInnen von nadir.org. Pressemitteilung von nadir.org zum Prozess „Jost B. vs. nadir.org“

30.05.2003 Seit März diesen Jahres wurde vor dem Landgericht Berlin die Klage „Jost B. ./. nadir.org e.V.“ verhandelt. Das Gericht wies nun die Klage ab. Jost B. verklagte den unkommerziellen, alternativen Informationsdienst und Provider „nadir.org“ aufgrund der Nennung seiner Person anläßlich einer Jubiläumsfeier der schlagenden Verbindung „Marchia zu Osnabrück“. Die Berichterstattung von einst sei heute eine Persönlichkeitsrechtsverletzung, so der Kläger, der bei der JN (Jugendorganisation der NPD) und den Republikanern leitende Funktionen inne hatte. Inzwischen hat das Gericht entschieden, daß die Klage unbegründet ist und sie deshalb abgewiesen. Die Berichterstattung von nadir.org ist kein rechtswidriger Eingriff ins Persönlichkeitsrecht Herrn Bs.

nadir.org betreibt seit 1994 ein linkes und alternatives Internetportal, unter dessen Dach sich über 20 Online-Ausgaben von Zeitschriften, Websites unzähliger politischer Gruppen, Kampagnenseiten zu antirassistischen Grenzcamps und zahllose andere Projekte organisiert haben. „Es geht darum, einem breiten Spektrum der undogmatischen Linken eine virtuelle Bleibe zu geben. Außerdem sucht nadir.org gern die Nähe zur Bewegungslinken und versucht, mediale Repräsentationen dauerhaft und kostenfrei der Erinnerung für alle zugänglich zu machen.“ so Luther Blisset von nadir.org.

Die archivarische Stabilität von Dokumenten ist ausdrückliches Interesse der BetreiberInnen. Der umstrittene Artikel stammt aus einer bei nadir.org archivierten Publikation, die sich mit den Burschenschaften in Osnabrück befaßt. In ihr findet u.a. Jost B. mit vollem Namen Ewähnung. Der Kläger will aber von seiner bei nadir.org archivierten braunen Biographie befreit werden. Nach seiner Mitgliedschaft im rechtsextremen „Unabhängigen Schülerbund“ in den späten 70ern wurde er, wie im Niedersachsenspiegel, dem Organ der NPD Niedersachsen, berichtet, erst Kreisvorsitzender der JN, dann Mitglied in deren Bundesvorstand.

Er publizierte 1986 im NHB, der Zeitschrift des nationaldemokratischen Hochschulbundes, einen längeren Artikel. Darin glorifizierte er studentische Verbindungen, z.B. eine der extremen Rechten nahestehende, zu der er als Student gestoßen war: die schlagende Verbindung „Marchia Berlin zu Osnabrück“, die einst aus Berliner Unis von AntifaschistInnen ausgesperrt wurde und ins provinzielle Osnabrück auswandern musste. Im Artikel nennt er Mitglieder anderer Verbindungen, die sich weigerten, die erste Strophe des Deutschlandliedes mitzusingen, „politische Eunuchen“. 1997, zur 125-Jahr Feier der Verbindung, konnte B. die Gunst der Stunde nicht vorbeiziehen lassen und ließ, nach dem er seine Festrede im Osnabrücker Rathaus beendet hatte, die erste Strophe des Deutschlandliedes anstimmen. Über diesen Skandal berichteten daraufhin die Neue Osnabrücker Zeitung, das Stadtblatt in Osnabrück, als auch die „Buschen Raus!“, die bei nadir.org gehostet und archiviert sind. 1998 ließ Berstermann in einem Leserbrief in den CC-Blättern, dem Organ des Dachverbandes der Verbindungen, noch einmal von sich hören. Er trug seine Sorge zum Ausdruck, dass man sich dem Zeitgeist anbiedere, was nicht „von einer waffenstudentischen Haltung“ zeuge. Weiter sorgte er sich um den „geeigneten“ Nachwuchs, der nur zu finden sei, „wenn wir selbst uns nicht scheuen unsere Positionen zu vertreten, auch wenn wir darin z. Zt. anecken.“ (CC-Blätter 4/98) Vertreten wurde der Jurist B. von der Kanzlei des Medienrecht-Staranwalts Prinz, der auch gleich mit einem Streitwert von 20.000 Euro vors Landgericht Berlin zog. Prinz hat sich in einem Bereich des Zivilrechts einen Namen gemacht, der das bürgerliche Individuum in seiner Privatssphäre vor der Verwertung durch seinesgleichen beschützt: im Persönlichkeitsrecht. Das nämlich sei verletzt durch die Berichterstattung auf „Burschen raus!“. „Abwegig“, so Luther Blisset für nadir.org. „Der beanstandete Artikel nennt Jost B., der sich in seiner Eigenschaft als Festredner selbst exponiert hat, an unprominenter Stelle. Die Kontextualisierung seiner Person ist schlicht guter Journalismus.“

So sieht auch das Gericht in seiner Urteilsbegründung keinen Grund, wieso Bs „früheres Verhalten nicht herangezogen werden sollte, um seine heutigen Äußerungen zu interpretieren“. Schließlich habe der Kläger auch „keine innere Abkehr von früheren politischen Standpunkten“ erkennen lassen. Trotz des guten Ausgangs dieses Prozesses werden die darin aufgeworfenen Fragen in netzpolitischer Hinsicht weiter Bedeutung haben: Mit einer gerichtlich erzwungenen Änderung des archivarischen Dokuments von 1998 wäre durch den ehemaligen JN-Funktionär die Geschichtsschreibung im Archiv der sozialen Bewegungen geändert worden. „Das wirft eine ganz grundsätzliche Frage auf“, so Blisset von nadir.org. „Wie soll ein online-Archiv noch glaubhaft sein, wenn jeder darin rumpfuschen kann?

Hätte es sich bei dem betroffenen Artikel um eine gedrucke Brochüre gehandelt, die bereits seit vielen Jahren in den verschiedensten Archiven und Bibliotheken aufbewahrt wird, so wäre die Entfernung von einzelnen Informationen oder Anonymisierung von Namen schlichtweg undenkbar – zu einem Prozeß wie diesem wäre es nie gekommen. Erst die technischen Strukturen, in welchen ein Onlinearchiv seine Voraussetzungen findet, lassen ein nachträgliches Eingreifen in Archivbestände im vollen Ausmaß denkbar werden. Das wäre gewissermassen das Ende der Geschichte in Echtzeit.“ Zwar hat das Gericht sorgfältig zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und dem Persönlichkeitsrecht des Klägers abgewägt, damit hat es obige Fragestellung aber zielsicher umgangen und die prinzipielle Antastbarkeit von Onlinearchiven sogar bestätigt.

Die Begründung des Landgerichts Berlin ist hier zu finden Der beanstandete Text liegt hier Das gesamte Magazin

Mit freundlichen Grüßen, nadir.org