Politik von Bund und Ländern ist anti-gesellschaftlich, undemokratisch und perspektivlos

Die fünfte Mitgliederversammlung des fzs beschließt folgende Diskussionsgrundlage:

Punkt 1. Während die öffentlichen politischen Maßnahmen die soziale Spaltung und Auflösung der Gesellschaft weiter vorantreiben, wird ein neuer-alter Geist der nationalen Einheit beschworen.

Die parlamentarischen Parteien begründen ihre restriktiven Kürzungsmaßnahmen im sozialen Bereich fast ausschließlich auf den „Standort Deutschland“- Diskurs. Es geht dabei um den besten Standort für Vermögen von Privatunternehmerlnnen, die am liebsten keine Sozialabgaben zahlen und viele Subventionen bekommen. Die weltweite Konkurrenz der Unternehmerlnnen um den möglichst gewinnbringenden Einsatz von privaten Investitionen bringt eine immer höhere Arbeitsintensität für die Noch-Verdienenden und immer massivere Abschiebung einer großen Gruppe von Menschen zu Nicht-Mehr-Verdienenden. Während es bei Unternehmerlnnen um den effektivsten Gewinn aus Geldanlagen in Arbeitskräfte geht, wird Lohnabhängigen, Arbeitslosen und SozialhilfeempfängerInnen aber erklärt, daß sie sich selbst in einer gnadenlosen Konkurrenzsituation zu „Milliarden von Menschen“ (Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände) befänden. Der Zweck dieser In-Konkurrenz-Setzung wird selten deutlich benannt: die Maximierung des privaten Profites. Diese Gewinn-Maximierung ist gerade dann besonders erfolgreich, wenn ein rigoroser Stellenabbau vorangetrieben wird. Gutes Management heißt heute Rationalisierung und Abschiebung von Noch-Verdienenden zu Nicht-Mehr-Verdienenden. Dies führt – wie eindrucksvoll 1994 und 1995 zu sehen war – zur scheinbaren Paradoxie, daß Unternehmerlnnen gerade dann Rekordgewinne einfahren, wenn die Arbeitslosenwachstumgsraten ebenfalls rekordverdächtig sind. Die gängigen Wirtschaftstheorien, nach denen ein Wachstum der Wirtschaft mehr Wohlstand für alle bringt, ist offensichtlich nicht mehr haltbar.

Das Leitbild der Konkurrenz wurde in alle gesellschaftlichen Bereiche heruntergebrochen und bekommt in den öffentlichen Medien Unantastbarkeitscharakter. Die einstmalige Solidargemeinschaft wird durch vielfältige Ausgrenzungs und Abgrenzungstechniken gespalten. Die neu entstandenen Interessengruppen werden in Konkurrenz zueinander gesetzt. Die politischen Instrumente zur Durchsetzung dieser Konkurrenzideologie entspringen der Theorie des Neoliberalismus: Privatisierung gesellschaftlicher öffentlicher Institutionen und Räume, Deregulierung und Flexibilisierung von Tarif- und Arbeitnehmerlnnenschutzrechten für eine Erhöhung der Arbeitsintensität bei gleichzeitigen Stellenabbau, Globalisierung der Finanzmärkte, damit sich Geldanlagen (bzw. ihre Eignerlnnen) flexibel den günstigsten Standort suchen können.

Die parlamentarischen Agenten des Neoliberalismus und bisher auch viele aus dem gewerkschaftlichen Funktionärsbereich tragen diese Maßnahmen im Grundsatz mit und treiben so die Entsolidarisierung und letztlich die Auflösung sozialer ehemals solidarischer Gemeinschaften bzw. der Gesamtgesellschaft weiter voran. Die Debatte um den Ab- oder Umbau des Sozialstaates macht vergessen, daß der zivile Staat als seine wesentliche Aufgabe den sozialen Ausgleich betreiben muß. In der wütenden Spardebatte soll gelten: Soziale Gerechtigkeit ist out, von gestern und sowieso idealistische Utopie. Der Staat, der Aufgabe des sozialen Ausgleichs sich entledigend, wird immer stärker auf einen Garanten für profitable und rechtlich sichere Gewinne reduziert. Seine politischen Funktionsträgerlnnen gefallen sich anscheinend in ihrer Ohnmachtsbekundung gegenüber den weltmarktpolitischen Notwendigkeiten, da die Feststellung von „Notwendigkeiten“ sie von Verantwortung freizusprechen verspricht. Die ursprünglich staatlichen Aufgaben wie Sozialer Ausgleich, Rentensicherung, allgemeiner Bildungszugang, Kulturförderung werden als Kostenfaktoren deklariert; der betriebswirtschaftliche Begriff der Kosten für konstitutive soziale Elemente der zivilen Gesellschaften impliziert schon eine Notwendigkeit des Kürzens und Drückens. Wer möchte schon anzweifeln, daß Kosten gesenkt und Einnahmen erhöht werden müssen? Mittlerweile gilt: Der Staat muß sich rechnen.

Auf der einen Seite findet eine Zersetzung und Auflösung der Gesellschaft in viele kleine Interessensgruppen statt, gleichzeitig ist der nationale Staat aber für das Gedeihen der unternehmerischen Gewinne überaus wichtig. Ohne staatliche Ordnung, ohne das staatliche Rechtswesen, ohne die staatliche Infrastruktur kämen keine privaten Geschäfte aus. Die zersetzende Wirkung der marktwirtschaftlichen Konkurrenzideologie muß kompensiert werden, damit der nationale Staat weiterhin Legitimation erhält. Es verwundert deswegen nicht, daß die Rede vom Standort-Deutschland eine Identität Deutschlands beschwört, die deutlich nationalistischen Charakter hat. Das Schlagwort fahrender Regierungsrepräsentanten von der „Schicksalsgemeinschaft“ Deutschlands im internationalen Wettbewerb könnte ohne weiteres Mitte der dreißiger Jahre seinen Platz finden. Schließlich ist es mehr als deutlich, wenn die Neue Rechte vor der Bundesanstalt für Arbeit demonstriert und fordert, daß Gewinne deutscher Unternehmern gefälligst ihre Gewinne, die sie auf deutschem Boden erwirtschaftet haben, auch wieder den Deutschen zugute kommen lassen müssen.

Punkt 2. Die Farce der repräsentativen Demokratie: medienvermittelte Meinungsmacht redet „von den Menschen“. Die autoritären Grundstrukturen der verwalteten Gesellschaft sind immer schärfer konturiert. Was bedeutet es eigentlich, wenn Politikerinnen ihren WählerInnen, wenn ein Unternehmer seinen Beschäftigten sagt: WIR müssen den Gürtel engen schnallen. Die Frage nach dem autoritären Grundverhältnis: Wer schnallt den Gürtel, und wer trägt ihn?

Die bürgerlichen Grundrechte, insbesondere die Meinungsfreiheit sind in der hiesig praktizierten repräsentativen Demokratie entwertet worden. Gültige Meinungen bekommen in der verwalteten Massengesellschaft nur über öffentliche Medien Gewicht. Zugang zu öffentlichen Medien haben vor allem parlamentarisch zugelassene Parteien und Wirtschaftsverbände, die sich in ihren Machtpositionen darüber unterhalten, was denn „für die Menschen“ gut und notwendig sei. Wenn etwa eine Bevölkerungsabstimmung wie in Brandenburg gegen ihre Ziele geht, dann wurde den Menschen anscheinend nicht genügend der Sinn vermittelt. Die Rede vom „Dialog mit den Menschen“ zeigt den Abstand und das autoritäre Grundverhältnis von Politikerinnen und Bürgerlnnen an. Ihnen wird gesagt, was für sie gut ist. Sie sind Verwaltungs-Objekte und Ressourcen wirtschaftlicher Entwicklung. Manchmal finden aufgrund einer liberal-pluristischen Einstellung von Redaktionen kritische Beiträge Platz in öffentlichen Medien, die nicht nur persönliche Fehler von einzelnen Politikerinnen beklagen, sondern eine grundsätzliche Kritik üben wollen. Doch werden diese von der Masse der Standort-Deutschland-muß-fit-gemacht-werden-Artikel erschlagen. In einer Zeit, in der viele dazu gezwungen sind, zu sehen, wo sie bleiben bzw. über „die Runden“ kommen, ist es schwerer geworden, politische Öffentlichkeiten zu erreichen und Gemeinsamkeiten mit anderen herzustellen. Die öffentlichen Medien und die machthabenden Politiker können es sich ohne weites leisten, verbale Gruppen-Proteste zu ignorieren und ggf. Protestierende zu diskreditieren. Diffamiert wird vor allem, wer sich nicht mehr an der Diskussion beteiligen will, wo und wie denn nun am günstigsten im Sozial/ Bildungs/ Kulturbereich gekürzt werden kann, sondern grundsätzlich die Spardebatte angreift. Z. B. werden gerade solche Studierende dann schon mal (in der Zeit vom 10.5.96) ironischerweise als unpolitisch bezeichnet. Politische Diskussion soll auf Optimierungs- und Effizienzfragen der Verwaltung von Menschen reduziert werden. Zu den Gürteln: Ein Vorgehen gegen die Gürtelschnaller oder die Existenz von Gürteln erscheint allemal perspektivreicher.

Punkt 3. Die Rede von der Zukunftssicherung/ Zukunftsperspektive/ Zukunftsinnovation/ Zukunftsgestaltung/ Zukunftschance… soll die Perspektivlosigkeit des Standort-X-Konzeptes verdecken.

„Es ist nämlich so, daß der ‚Neoliberalismus’ keine Theorie ist, um die Krise zu überwinden oder zu erklären. Er ist die zu Theorie und Wirtschaftstehre gewordene Krise. Das bedeutet, der Neoliberalismus hat nicht die geringste Kohärenz, weder Pläne noch historische Perspektiven. Kurz und gut, nichts als theoretische Scheiße.“ (Käfer Durito in einem Brief aus dem lakedonischen Urwald in Mexiko)

Der nationale Wettbewerbsstaat hat Abstand von den Zielen des Wohlfahrtsstaates genommen. Es geht nicht mal mehr ansatzweise um Wohlstand für alle, sondern um die Sicherung des nationalen Wirtschafts-Standortes Deutschland, d.h. die Maximierung unternehmerischer Gewinne. Ein Standort kann allerdings gut mit mehr Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängerlnnen leben, wenn die wirtschaftlich nutzlosen aber politisch notwendigen Ruhighaltungskosten – nur weiter gedrückt werden. Gerade der jüngeren Generation wird indirekt mitgeteilt, daß ein guter Teil von ihnen nutzlos sein wird, es soll sich also jeder aufmachen, durch Leistung und scharfes Konkurrenzverhalten doch noch den Aufstieg in die Klasse der Noch-Verdienenden zu schaffen. Gesellschaftlich festgestellter Nutzen von Arbeit spielt in der Gewinnplanung von Unternehmen inclusive der „Deutschland GmbH“ keine Rolle, sondern profitabel muß die Bezahlung eines Lohnabhängigen, eines Studienplatzes, einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme sein. Was sich nicht rechnet, ist nicht tragbar. Von Wirtschaftskrise redet dabei nur, wer wirtschaftliche Entwicklung mit gesellschaftlicher d.h. sozialer und kultureller Entwicklung weiterhin gleichsetzt. In Wirklichkeit werden von UnternehmerInnen gerade so viele Arbeitsplätze geschaffen, wie rentabel sind, keiner mehr und keiner weniger. Die Probleme hat der Staat, der seine früher definierten sozialen Aufgaben gegenüber der rauhen Marktwirtschaft nicht mehr wahrnehmen kann. Der Staat im Einklang mit UnternehmerInnen beschimpft die „Anspruchsmentalität der Besitzstandswahrer“, womit er nicht etwa Besitzer großer privater Vermögen meint. Er setzt auf mehr „Eigenverantwortlichkeit“, da er selbst seine Verantwortung nicht mehr wahrnehmen will. Jede soll selbst ihren Gürtel enger schnallen.

Die Diskussion um gesellschaftliche Entwicklung ist einer Diskussion um die Wettbewerbsfähigkeit der Nation gegen andere Nationen gewichen. Es geht um den wirtschaftlichen Sieg im Krieg der Standorte. Für diesen Sieg sollen alle arbeiten, da nur so der Sozialstaat gerettet werden könne. Die verschiedenen nationalen Gesellschaften wirtschaften dafür jetzt ihre sozialen Elemente jeweils aus politisch festgestellter Notwendigkeit herunter. Statt die Ursachen der gegenwärtigen Entwicklungen zu analysieren, wird über die Zukunft diskutiert, eine Zukunft, die unter Ausschluß eines großen Teils der ehemaligen Gesellschaft stattfindet, d.h. die Zukunft der GewinnerInnen und zwar innerhalb und zwischen den nationalen Gesellschaften. Hat ein Staatschef oder ein Arbeitgeberpräsident jemals etwas von Verliererlnnen erzählt? Die überall spürbare Perspektivlosigkeit und Existenzangst ist zu einem mächtigen politisch wirksamen Partner der Wirtschaftsnationalisten geworden. Sie sind die einzigen, die eine Zukunft versprechen. Früher war das Zukunftsthema von linken auf Gesellschaftsveränderung hinzielenden Diskussionen geprägt. Heute geht es um Wettbewerbsfähigkeit der Deutschland GmbH – Zukunftsgarantie inklusive.

Schlußpunkt: Konkret zu fordern bleibt bei solchen Differenzen zur herrschenden Politik an dieser Stelle nichts. Es geht um die politische Grundlage der Arbeit des fzs, die in der jetzigen Umbruchsituation als gemeinsamer Ansatzpunkt dienen kann. Es ist nötig, wieder gemeinschaftliche Perspektiven zu entwickeln, um den gesellschaftlichen Spaltungsprozessen entgegenzuwirken. Es ist daher auch sinnvoll, in aktuellen Diskussionen Positionen zu beziehen, die in diese Richtung weisen.

Beschlossen auf der 5.MV in Köln, Mai 1996