Sehr geehrte Frau Löhrmann, sehr geehrte Frau Schulze, sehr geehrte Mitglieder des Schulausschusses und des Wissenschaftsausschusses,
2009 wurde mit dem Bildungsstreik nicht nur die Forderung nach Abschaffung der Studiengebühren, sondern vor allem der Anspruch mit dem Studium zum Allgemeinwohl beizutragen, erhoben. Deshalb stand die Bologna-Ideologie, Studierende müssten durch Konkurrenz, Anpassungs- und Leistungsdruck zu verwertbarem Humankapital erzogen werden, breit in der Kritik. Im gleichen Jahr wurde – noch unter der Regierung von CDU/FDP – die jetzige Umstellung der Lehramtsstudiengänge inklusive der Einführung des Bachelor-Master-Systems beschlossen. Dabei wurden teilweise restriktive Regelungen in das Gesetz geschrieben, die in anderen Bachelor- Studiengängen seinerzeit schon wieder abgeschafft wurden. Eine besonders abwegige Regelung betrifft das Auslaufen der bisherigen Lehramtsstudiengänge: Laut Gesetz haben die Lehramtsstudierenden, die sich zuletzt entweder in die Staatsexamens- oder die Modell- Bachelor/Master-Studiengänge eingeschrieben haben, lediglich 11 (Lehramt Grund-, Haupt- und Realschule) bzw. 13 Semester (alle anderen Lehrämter) Zeit, bevor sie zwangsexmatrikuliert werden. Dermaßen restriktive Regelungen hat es in den vergangenen Jahrzehnten in NRW nirgendwo gegeben. Zum Vergleich: Den letzten Studierenden, die sich in die Lehramtsstudiengänge nach der Lehramtsprüfungsordnung 1994 (dem Vorgängermodell der aktuell auslaufenden Lehramtsprüfungsordnung 2003) eingeschrieben hatten, wurden 21 Semester Zeit eingeräumt und es gab großzügige Härtefallregelungen.
Hochschule als Schule der Demokratie?
Im von der Bundesrepublik ratifizierten UN-Sozialpakt wird die Bedeutung von Bildung wie folgt gefasst: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf Bildung an. Sie stimmen überein, dass die Bildung auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und des Bewusstseins ihrer Würde gerichtet sein und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten stärken muss. Sie stimmen ferner überein, dass die Bildung es jedermann ermöglichen muss, eine nüt- zliche Rolle in einer freien Gesellschaft zu spielen, dass sie Verständnis, Toleranz und Freund- schaft unter allen Völkern und allen rassischen, ethnischen und religiösen Gruppen fördern sowie die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Erhaltung des Friedens unterstützen muss.“
Die Fristen bedeuten das Gegenteil einer solchen Bildung, die alle befähigt, verantwortliche Mitglieder und gestaltende Subjekte einer demokratischen und menschenwürdigen Gesellschaft zu sein. Jetzt schon ist im Studienalltag zu spüren, wie der durch die Fristen hervorgerufene Zeitdruck wirkt: Allen wird nahegelegt, im Einzelkämpfermodus alle Tätigkeiten nach Kosten-Nutzen- Kalkül zu bewerten und alles, was über die Abarbeitung des vorgegebenen Studienplans hinausgeht, eng zu beschränken. So wird studentisches Engagement in Hochschule und Gesellschaft (z.B. in Fachschaften, im Studierendenparlament, im Senat, in selbstorganisierten Initiativen) deutlich erschwert. Die Vertiefung des Studiums über das vorgeschriebene Maß hinaus (z.B. Beschäftigung mit der Verantwortung und Geschichte der eigenen Fächer), der Erwerb zusätzlicher Qualifikationen (z.B. Beschäftigung mit Inklusion, Deutsch als Fremdsprache, Theaterpädagogik, Fachdidaktik, die in den auslaufenden Studiengängen nur in geringem Umfang vorgesehen ist) werden ebenso behindert wie Auslandsaufenthalte als interkulturelle Bereicherung. Kritik oder das Hinterfragen von Studieninhalten – die Grundlage von Bildung durch Wissenschaft – wird durch den Zeitdruck zum Luxus. Durch diese Einschränkungen wird die gesamte Lern- und Entwicklungskultur an der Universität geschädigt. Die Bildung mündiger Persönlichkeiten, die gelernt haben, sich auf argumentativer Grundlage darüber zu verständigen, wie sich die Gesellschaft, aber auch ihre konkreten Lebens- und Arbeitszusammenhänge entwickeln sollen, wird beeinträchtigt. Dadurch werden auch die Möglichkeiten, dass Bildung und Wissenschaft zu einer aufgeklärten und menschenwürdigen Gesellschaftsentwicklung beitragen, massiv beschränkt. So ist die Hochschule keine Schule der Demokratie.
„Teachers teach as they were taught, not as they were taught to teach“
Zukünftige LehrerInnen müssen sich selbst umfassend und kritisch bilden können, um die Bildung mündiger DemokratInnen unterstützen zu können: Durch die Auslauffristen wird nahegelegt, das Studium auf das Absolvieren von Prüfungen zu reduzieren. Progressive pädagogische Ansätze, die sich gegen ein Teaching-to-the-test richten, können sich schwerlich in diesem Modus angeeignet werden. Eine reflektierte Haltung gegenüber Leistungs- und Konkurrenzdruck und der sozialen Selektion im Schulsystem sowie gegenüber dem Widerspruch zwischen Bildung für Verwertungsinteressen und „Selbstbestimmungsfähigkeit, Mitbestimmungsfähigkeit und Solidaritätsfähigkeit“ (Wolfgang Klafki) als Bildungszielen wird auf diese Weise ebenfalls nicht befördert.
Auch an den in den Kernlehrplänen der Oberstufe ausgeführten Zielen zeigt sich der Widerspruch zu den Auswirkungen der Fristen: In allen Lehrplänen ist gefasst, dass jeglicher Unterricht zur „Entwicklung von Gestaltungskompetenz zur kritischen Reflexion geschlechter- und kulturstereotyper Zuordnungen, zur Werteerziehung, zur Empathie und Solidarität, zum Aufbau sozialer Verantwortung, zur Gestaltung einer demokratischen Gesellschaft, zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen, auch für kommende Generationen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung, und zur kulturellen Mitgestaltung“3 beitragen soll. Es reicht nicht, dass diesbezügliche Inhalte in Seminaren kognitiv erlernt werden sollen. Lehramtsstudierende müssen solche Haltungen selber entwickeln können. Wer zukünftige LehrerInnen durch viel zu kurze Fristen in ihrer beruflichen und persönlichen Entwicklung einschränkt, kann nicht erwarten, dass SchülerInnen im Sinne der in den Lehrplänen explizierten Ziele unterrichtet werden.
Selbst erfahrene Freude am Lernen statt Versagensängste ist Voraussetzung dafür, eine positive Lernkultur in der Schule fördern zu können. Das durch die Fristsetzungen hervorgerufene, demotivierende Pauken im Akkord widerspricht daher den Ansprüchen des Schulgesetzes NRW: „Der Unterricht soll die Lernfreude der Schülerinnen und Schüler erhalten und weiter fördern. Er soll die Schülerinnen und Schüler anregen und befähigen, Strategien und Methoden für ein lebenslanges nachhaltiges Lernen zu entwickeln. Drohendem Leistungsversagen und anderen Beeinträchtigungen von Schülerinnen und Schülern begegnet die Schule unter frühzeitiger Einbeziehung der Eltern mit vorbeugenden Maßnahmen.“ [Schulgesetz NRW, §2 (10)] Im Gegensatz zu dem im Schulgesetz artikulierten Ziel, drohendem Leistungsversagen produktiv zu begegnen, wird die Angst vor dem Versagen im Studium durch die Fristen maßgeblich hervorgerufen. Die „Schuld“ für das „Versagen“ wird den Einzelnen aufgebürdet, statt – wie es nicht nur pädagogisch sinnvoll wäre – zu überlegen, welche Schwierigkeiten und Probleme zu bewältigen sind, um bestmögliche Entwicklungsmöglichkeiten für alle zu schaffen. Auch dies behindert nachhaltig eine Lernkultur in den Schulen, die den Ansprüchen der Inklusion gerecht wird. Es entspricht also nicht der Realität, dass ein langes Studium die Allgemeinheit schädigt, sondern die Fristen bedeuten eine qualitative Herabminderung der LehrerInnenbildung, die negative Konsequenzen für die Schulbildung und eine aufgeklärte Gesellschaftsentwicklung haben.
Soziale Abschottung des Lehramtsstudiums
Die Fristen bedeuten zudem das Gegenteil der sozialen Öffnung des Bildungssystems: Nach Angaben des Deutschen Studentenwerks finanzieren sich fast zwei Drittel aller Studierenden das Studium zumindest teilweise durch eine Nebentätigkeit.4 Studierende, die bis zu 20 Stunden in der Woche arbeiten, können nicht in Regelstudienzeit studieren. Die bisherige Auslaufregelung würde somit die soziale Selektion im Bildungssystem verstärken. Die reale soziale Lage, dass nämlich 63% der Studierenden höchstens 900 Euro pro Monat5 zur Verfügung haben und damit unter der offiziellen Armutsgefährdungsgrenze (von aktuell 979 Euro6) liegen, sollte berücksichtigt werden. Außerdem widersprechen die Fristen dem im neuen Hochschulzukunftsgesetz explizierten Anspruch der aktuellen Koalition in NRW, das Teilzeitstudium zu fördern: Durch die Fristen werden KommilitonInnen, die aus unterschiedlichen Gründen (z.B. Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen, chronische Krankheiten, Lohnarbeit) nicht in Vollzeit studieren, systematisch benachteiligt.
Zur konkreten Lage
Allein an den Universitäten Aachen, Bielefeld, Duisburg-Essen, Köln, Paderborn und Siegen sind derzeit über 13.000 Studierende von der Auslaufregelung und der Drohung der Zwangsexmatrikulation betroffen. Entgegen der geläufigen Annahme benötigen sie keine „eigenen“, auf ihren Studiengang zugeschnittenen Veranstaltungen, schon jetzt besuchen sie die gleichen Kurse wie ihre KommilitonInnen in den Bachelorstudiengängen.
Der Wechsel in die Bachelorstudiengänge ist für die Betroffenen nicht sinnvoll: Unabhängig davon, wie weit jemand im Studium fortgeschritten ist (auch wenn nur noch wenige Abschlussprüfungen zu absolvieren sind), wird er/sie in einen Bachelor zurückgestuft. Eine Bachelorarbeit muss zusätzlich geschrieben und das Praxissemester absolviert werden. Durch erheblich differierende Studienordnungen werden sehr viele Scheine nicht anerkannt werden können und zusätzliche Scheine und Prüfungen müssen absolviert werden. Zudem können einige Fächerkombinationen im Bachelor-Lehramtsstudium nicht mehr studiert werden, da eines oder beide Studienfächer, welche man auf Staatsexamen studieren konnte, im Bachelor nicht mehr angeboten werden. Das Studium eines dritten Fachs oder das Studium zur Befähigung für eine zusätzliche Schulform sind im Bachelorstudium – anders als im Staatsexamen – nicht mehr möglich. Diese Teile des Studiums (und das damit zusammenhängende Anliegen) müssten bei einem Wechsel aufgegeben werden.7 Wahrscheinlich würden – wie dies die Erfahrungen mit den auslaufenden Diplom- und Magisterstudiengänge gezeigt haben – wegen der Fristen einige KommilitonInnen ihr Studium aus Frustration abbrechen. Wir fordern Sie daher auf, die Fristen und so die für alle einschüchternde Drohung der Zwangsexmatrikulation aufzuheben, damit die Hochschule ein Ort des produktiven Austauschs, der umfassenden und kritischen Bildung mündiger Persönlichkeiten, der Freude am Lernen, an der Debatte und am Verstehen und Gestalten der Welt wird. Eine Verlängerung der Fristen ist hierfür nicht ausreichend, weil die geschilderten Probleme dadurch nicht gelöst, sondern nur verschoben werden.
Mit freundlichen Grüßen
Das Landeslehramtsfachschaftentreffen NRW vom 2. April 2015