Sozialpolitische Impulse und Herausforderungen durch die Europäisierung der Hochschulsysteme

Einleitung

Seit der Erklärung der Bildungs- und WissenschaftsministerInnen aus ursprünglich 29 und mittlerweile 33 Staaten Europas von Bologna 1999, der sog. Bologna-Deklaration, befindet sich die Hochschullandschaft Europas in einem grundlegenden Umbau. Mit der Herstellung von Kompatibilität und Vergleichbarkeit soll bis 2010 ein „europäischer Hochschulraum“ aufgebaut werden. Aufgrund des Drängens der StudentInnen, vertreten durch ESIB – The National Unions of Students in Europe, wurde in der Prager Konferenz der BildungsministerInnen 2001 eine stärkere Berücksichtigung der „sozialen Dimension“ im Bologna-Prozess vereinbart.

Der fzs ist seit längerem, u.a. durch die Mitgliedschaft und aktive Mitarbeit bei ESIB sowie Aufklärungskampagnen und politische Einflussnahme in Deutschland, aktiv an der Durchsetzung studentischer Interessen im Bologna-Prozess beteiligt. Mit diesem Positionspapier sollen grundsätzliche sozialpolitische Positionen bzgl. des Europäischen Hochschulraums sowie einer durch die Europäisierung angestoßenen sozialpolitischen Reform in Deutschland niedergelegt werden.

Soziale Bedingungen des Studiums

Die sozialen Bedingungen für die Aufnahme und Durchführung eines Studiums in Europa sind höchst unterschiedlich. Dies gilt ebenso für die gesellschaftliche Bedeutung der Hochschulen sowie eines Hochschulabschlusses, mit der Folge stark divergierender Bildungsbeteiligungsraten. Ursache hierfür sind unterschiedliche kulturelle und ökonomische Voraussetzungen wie auch Prioritäten bei der Schul- und Hochschulpolitik.

Der Zugang zu tertiärer Bildung schwankt zwischen einem Drittel eines Jahrgangs bis zu über zwei Dritteln. Dem zugrunde liegen weite Unterschiede in Qualität, Ausrichtung sowie (sozialer) Selektivität der Schulsysteme. Ferner existieren große Unterschiede in der Fächervielfalt sowie in der Zuordnung bestimmter berufsqualifizierender Ausbildungen in den tertiären oder (post-)sekundären, nicht-tertiären Bereich. Darüber hinaus existieren unterschiedliche Selektionsverfahren für die Aufnahme eines Studiums sowohl direkt nach der Schule als auch für einen indirekten Hochschulzugang.

Große Unterschiede bestehen auch bei der Autonomie der StudentInnen bzgl. der Wahl ihres Studienfachs und der Gestaltung des Studienverlaufs. Dies betrifft insbesondere

  • die (Un-)Abhängigkeit von Eltern und elterlichem Einkommen,
  • die Abhängigkeit von eigenem Erwerbseinkommen,
  • die Gestaltungsmöglichkeiten beim Studium sowohl in fachlicher als auch in zeitlicher Perspektive, verbunden mit den fächerspezifischen, fächerübergreifenden und sozialen Beratungsangeboten,
  • die Verfügbarkeit sowie die Diversität des verfügbaren Wohnraums,
  • das Gesellschaftsbild von Studium und StudentInnen sowie die Achtung studentischer Autonomie und Gestaltungsfreiheiten.

Wesentliche sozialpolitische Unterschiede bestehen weiterhin zwischen Nord- und Südeuropa sowie zwischen West und Ost. Allerdings ist, von wenigen Ausnahmen wie z.B. Deutschland abgesehen, allgemein eine breite Öffnung der Hochschulen auch für sozial unterprivilegierte bzw. diskriminierte und bildungsferne Schichten zu verzeichnen. Insbesondere in den nordischen Staaten ist, mit Ausnahme Dänemarks, ein hohes Maß an Chancengleichheit erreicht worden.

Mobilität

Die studienbezogene Mobilität von StudentInnen in Europa ist, trotz gravierender Unterschiede, weiterhin als ausgesprochen gering zu betrachten. Die zentralen Hindernisse sind, neben Anerkennungsproblemen und Mobilität verhindernder ausländer- und einwanderungsgesetzlichen Bestimmungen, überwiegend kultur- und sozialpolitischer Natur. Probleme bereiten insbesondere die folgenden Felder:

  • Studienfinanzierung und Arbeitsberechtigungen
  • Betreuung, Beratung und Information im In- und Ausland
  • Sprachliche und kulturpolitische Vorbereitung auf den Auslandsaufenthalt
  • Integration in StudentInnenschaft, Studienbetrieb sowie in das alltägliche Leben

Bedingt durch ökonomische Unterschiede und unterschiedliche Attraktivität der Bildungssysteme ist in den letzten Jahren ein verstärkter Brain-Drain von Ost- nach Westeuropa zu verzeichnen, welcher teilweise durch eine unverantwortliche Anwerbepolitik seitens westlicher Staaten – insbesondere Deutschlands – noch verstärkt wird. Dieser Brain-Drain stellt zunehmend eine Gefahr für die soziale und ökonomische Entwicklung verschiedener Staaten dar und droht, zu einer Behinderung für die qualitative Entwicklung ihrer Hochschulsysteme zu werden.

Grundsätzlich ist allerdings festzustellen, dass es an einer verlässlichen Datenlage über die sozialen Bedingungen des Studiums in den Bologna-Staaten mangelt. Dies betrifft sowohl vergleichbare und vergleichende empirische Daten wie auch eine vergleichende Analyse der sozialen Förderungssysteme. Entsprechend gestaltet sich die Formulierung fundierter sozialpolitischer Stellungnahmen und Reformvorschläge schwierig.

Keine Bewegung in Deutschland

Aufgrund der starken Zersplitterung von Zuständigkeiten, der gegenseitigen Lähmung politischer AkteurInnen sowie eines stark konservativ geprägten Verständnisses von Bildung befinden sich das Schul- und Hochschulsystem in Deutschland aus sozialpolitischer Perspektive strukturell in einer Lähmung. Trotz deutlicher Erhöhung der StudentInnenzahlen in den letzten 30 Jahren wurde das Ziel von Chancengleichheit im Bildungswesen deutlich verfehlt; strukturelle sozio-ökonomische und kulturelle Ungleichheiten werden durch das Bildungssystem fortgeführt. Die Bundesregierung hat in der letzten Legislaturperiode den Verfall des BAföG aufgehalten sowie mit Beschränkung der Darlehenshöchstsumme und deutlicher Verbesserung der Auslandsförderung richtige Reformschritte eingeleitet. Trotz dieser grundsätzlichen Trendwende bleiben diese Schritte weit hinter dem tatsächlich Notwendigen zurück.

Sozialpolitische Forderungen

Aus Sicht des fzs sind im Zuge der Harmonisierung der europäischen Hochschulsysteme grundsätzlich vergleichbare soziale Bedingungen des Studiums notwendig. Dies ist insbesondere eine Voraussetzung für ein vergleichbares Maß an studentischer Mobilität sowie eine Integration mobiler StudentInnen in die StudentInnenschaften und Hochschulen. Der fzs setzt sich weiterhin für eine soziale Grundsicherung auf nationaler und europäischer Ebene ein.

Die Erfüllung der folgenden Grundsätze und konkreten Forderungen ist aus Sicht des fzs notwendig:

1. Um ein Studium erfolgreich absolvieren zu können, müssen die Voraussetzungen für eine selbständige, autonome Entscheidungsfindung vorliegen. Für eine Konzentration auf das Studium ist die Deckung der Lebenshaltungskosten inklusive der studienbedingten zusätzlichen Kosten sowie die zur Teilnahme am kulturellen und sozialen Leben erforderlichen Gelder notwendig. Die Anhäufung von Schulden während des Studiums schreckt insbesondere Menschen aus sozial benachteiligten und/oder bildungsfernen Schichten von der Aufnahme eines Studiums ab. Sie behindert ferner die Wahl des Studiengangs nach Fähigkeiten und Interessen und fördert eine in erster Linie ökonomisch motivierte Wahl des Studiengangs. Der fzs fordert daher eine grundsätzliche Umstellung der Studienfinanzierung auf eine elternunabhängige und bedarfsdeckende staatliche Zuschussfinanzierung. Aus Gründen der Gleichbehandlung sowie zur Herstellung einer Kohärenz des Sozialsystems ist diese Studienfinanzierung allen sich in einer postsekundären Ausbildung befindenden Menschen nach den gleichen Kriterien zu gewähren. Das Gewähren der Studienfinanzierung darf nicht von der Wahl des Studienstandortes abhängig gemacht werden. Dies beinhaltet ein volles Anspruchsrecht beim Auslandsstudium ab dem ersten Semester.

2. Zur Herstellung von Chancengleichheit, dem Abbau von Mobilitätshindernissen sowie zur Klarstellung, dass es sich auch bei Hochschulbildung um ein öffentliches Gut handelt, fordert der fzs einen „Gebührenfreien Hochschulraum Europa“. Im Zuge des Bologna-Prozesses müssen europaweit Gebühren abgeschafft sowie die Einführung neuer Gebühren verhindert werden.

3. Zur Gewährleistung von Mobilität und studentischer Autonomie ist an allen Hochschulstandorten ausreichend studiengerechter Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Dabei soll eine Isolierung von StudentInnen von Kommunen vermieden werden.

4. Zur Ermöglichung eines höheren Grades an Mobilität sind an den Hochschulen kostenfreie Sprachkurse und insbesondere auch landeskundliche Studien verschiedener Länder vorzusehen, mit welchen die Hochschule Kooperationsverträge hat. Eine umfassende und ausreichende Betreuung und Beratung von StudentInnen ist zu gewährleisten. Die Informationslage über die Möglichkeit des Auslandsstudiums sowohl über Programme als auch für „free movers“ ist wesentlich zu verbessern. Hierzu bedarf es insbesondere einer maßgeblichen Verbesserung der Koordination zwischen StudentInnenvertretungen, Hochschulleitungen und Auslandsämtern.

5. Zur Herstellung von Chancengleichheit in Europa ist ein europäischer Fonds einzurichten. Aus diesem sollen insbesondere StudentInnen aus ökonomisch schwächeren Ländern sowie schlechter gestellten Verhältnisse die (mobilitätsbedingten) Mehrkosten finanziert bekommen.

6. Hochschulleitung, StudentInnenvertretung und Kommune sowie für die soziale Lage der StudentInnen bedeutsame Institutionen wie beispielsweise in Deutschland die Studentenwerke müssen gemeinsame, ständig tagende Gremien für die Koordination und Verbesserung des AusländerInnen- und Auslandsstudiums einrichten. Darüber hinaus müssen alle Institutionen, insbesondere die Kommunen, dazu beitragen, die (ausländischen) StudentInnen in das gesellschaftliche Leben einzubinden und auf ihre Bedürfnisse einzugehen.

7. Die vergleichende europäische Sozialerhebung „Euro Student Report“ sollte schnellstmöglich verbessert, erweitert und auf alle am Bologna-Prozess teilnehmenden Staaten ausgedehnt werden. Dabei ist auch auf die Situation von BildungsinländerInnen StudentInnen aus bildungsferner Herkunft einzugehen. Eine funktionierende Koordination, finanziert über die europäische Union oder den Europarat, ist notwendig, um technische Probleme zu beseitigen und aussagekräftige Sozialerhebungen zu erstellen.

8. Es sollte eine regelmäßig aktualisierte, öffentlich finanzierte und (in Auftrag) durchgeführte Übersicht über die sozialen Sicherungssysteme für StudentInnen in den am Bologna-Prozess teilnehmenden Staaten in Form eines Handbuchs geben.

Fazit

Der fzs hält eine Verbesserung der Sozialsysteme im Hinblick auf StudentInnen sowie die Herstellung von sozialpolitischer Komparabilität und Kompatibilität für eine notwendige Voraussetzung zur Schaffung eines Europäischen Hochschulraums. Studentische Autonomie, bedarfsdeckende Studienfinanzierungssysteme, ausreichend studentischer Wohnraum sowie der „Gebührenfreie Hochschulraum Europa“ sind Grundsätze, auf deren Grundlage ein sozialer Hochschulraum Europa geschaffen werden kann. Die Erforschung der sozialen Bedingungen dieses Hochschulraums steht erst am Anfang und muss dringend ausgedehnt und vertieft werden. Der fzs sieht den Bologna-Prozess noch immer als Chance für eine gesellschaftlich wünschbare, an Kooperativität und Chancengleichheit ausgerichtete europäische Hochschulreform. Soll die studentische Unterstützung von Dauer sein, müssen allerdings erkennbare öffentliche Anstrengungen im Sinne dieser sozialen Öffnung der Hochschulen erfolgen.

Beschlossen auf der 22.MV in Münster, November 2002