Ein Gastbeitrag des Bundesausschusses der Studentinnen und Studenten (BASS) der GEW
Durch die Gefahr der immer schneller werdenden Ausbreitung des Coronavirus‘ und der damit einhergehenden Bedrohung durch die Infizierung breiter Bevölkerungsschichten mit COVID-19 haben die deutsche Bundesregierung und die Länder zu drastischen Maßnahmen gegriffen, vor allem auch die Schließung zahlreicher Bildungseinrichtungen (KiTas, Schulen und Hochschulen).
Wir begrüßen diese voraussehenden Maßnahmen und hoffen, dass diese die zu schnelle Verbreitung des Virus und die damit einhergehende Härten im ohnehin überlasteten Pflege- und Gesundheitsbereich aufschieben können.
Sowohl im Bereich der Schulpädagogik sowie der Hochschuldidaktik werden vermehrt Stimmen laut, welche den kompensatorischen Einsatz digitaler Lehrangebote anstatt des ausfallenden Schul- und Hochschulunterrichts fordern.
Wir rufen dazu auf in dieser Hinsicht vorsichtig zu sein. Einerseits begrüßen wir es, wenn Dozierende ihren Studierenden Angebote zukommen lassen, mit welchen sie die Zeit bis zum verschobenen Semesterstart überbrücken können. Andererseits sollte klar sein, dass diese Angebote, egal ob digitalisierte Texte, Lernvideos, Vorlesungs-Livestreams, Lernspiele etc. kein bzw. nur bedingter Ersatz für gute Präzenz-Lehrveranstaltungen sein können. Wir werden im Folgenden darstellen, warum wir so denken:
Bildung als Ware durch die Digitalisierung
Die Forderung digitale Lehrangebote verstärkt sowohl in Schulen als auch in der Hochschuldidaktik einzusetzen kommt in letzter Zeit vor allem verstärkt von unternehmensnahen Stiftungen wie beispielsweise der Bertelsmannstiftung. Diese versprechen sich davon eine neue Qualität von Bildungsangeboten, wittern aber vermutlich vor allem auch das große Geschäft: Ihre Initiative schlägt in die aktuelle bildungspolitische Kerbe, die versucht kleinere „operationalisierte“ Lerneinheiten im Hochschulstudium zu implementieren, welche beispielsweise durch kostenpflichtinge „Massive Open Online Courses“ (MOOCs) augefüllt werden sollen. Diese sind oftmals kostenpflichtige Online-Kurse, in welchen die Teilnehmer*innen selbstständig Inhalte lernen und anwenden können und sollen. Die finanziellen Hürden der immer beliebter werdenden Kurse stellen aber auch einen Ausschluss von Bildung dar, da nicht alle Interessierten die Gebühren aufbringen können. Kostenpflichtige MOOC’s tragen außerdem zu einer Warenförmigkeit von Bildung bei und kommen vor allem profitorientierten Bildungsträgern zugute.
Diese Entwicklung ist so an den deutschen Hochschulen bisher glücklicherweise noch nicht angekommen, durch die Modularisierung der Studiengänge und die Einführung von Bildungsstandarts in der Schulpädagogik ist dieser Schritt allerdings denkbar. Die meisten – wenn auch nicht alle und nicht in allen Fächern gleichermaßen – deutschen Hochschulen operieren mit kostenfreien Freewareangeboten, beispielsweise Moodle oder kostenlosen Konferenztools, was zu begrüßen ist.
Digitale Infrastruktur der Hochschulen ist nicht bereit – Zeit der Krise ist keine optimale Zeit für Testläufe
Die deutschen Hochschulen sind derzeit nicht auf die Digitalisierung eingestellt, die Hochschulpakte und Förderpakete der Vergangenheit haben daran wenig geändert, auch da sie zu oft lediglich Projekt- und Leuchtturmförderung betrieben haben anstatt die Grundfinanzierung zu stärken und den Wissens- und Technologietransfer in die Breite zu gewährleisten. Im schlimmsten Fall führt dieser Missstand und die verschleppte Investition zu einer Auslagerung der Lehre an private Anbieter*innen, die in Zeiten immer stärkerer Kommodifizierung (Warenförmigkeit) zu Bezahleinheiten ausufern können.
Der vermehrte Einsatz von digitalen Lehrmitteln darf nicht zur Benachteiligung vieler Schüler*innen und Studierender gerade aus bildungs- und einkommensfernen Haushalten führen, nicht alle haben zuhause einen Internet-Anschluss oder ein eigenes digitales Endgerät. Außerdem ist damit zu rechnen, dass in den nächsten 14 Tagen die Internetleitungen massiv beansprucht werden (so ist beispielweise in Norditalien das Internet in einigen Regionen schon zeitweise zusammengebrochen), sodass die reibungslose Nutzung von Online-Angeboten nicht sichergestellt ist. Studierende mit Kindern, pflegebedürftigen Angehörigen oder in finanziellen Notsituationen (aufgrund von prekären Arbeitsverhätnissen) haben derzeit auch nicht die zeitlichen und emotionalen Ressourcen, um sich auf neue Online-Angebote einzulassen.
Die pädagogische Dimension digitaler Lernangebote
In der aktuellen gesamtgesellschaftlichen Debatte erscheint Digitalisierung zumeist ein Selbstzweck zu sein: Alles werde besser, transparenter und individueller durch die Überführung klassischer Angebote in digitale Medien.
Für uns steht aus pädagogischer Sicht fest, dass digitale Lernabgebote lediglich ein Mittel für bessere Hochschulbildung sein kann, aber keine „Allzweckwaffe“, um die seit Jahrzehnten bekannten Probleme der Bildungspolitik zu lösen. Bei zielgerichteter und maßvoller Implementierung hat Digitalisierung durchaus das Potenzial, die Qualität von Bildung zu verbessern, diese sollte allerdings nur ein Tool sein, um eine weitere Dimension des Lehren und Lernens zu eröffnen. Bei falscher Umsetzung kann der Einsatz von digitalen Lehrangeboten aber ebenso die Qualität verschlechtern, zum Beispiel wenn eine Verdrängung von Face-to-Face Veranstaltungen stattfindet.
Es hat sich gezeigt, dass die „Übertragung von Wissen“ als reziproke Verhältnis von Lehrenden und Lernenden substanziell ist. Es gibt keine Alternative zur klassischen pädagogischen „Jetztzeit“ (C. Türcke übertrug diesen Begriff 2016 gewinnbringend von W. Benjamin auf die Pädagogik), in welcher eine Lerngruppe die gemeinsame Aufmerksamkeit auf ein Drittes richtet und dieses durchdringt. Dies deckt sich mit den anthropologischen Forschungen Michael Tomasellos, welcher die „shared intentionality“ (2006, 2011) als konstitutiven Anstoß der Menschen für Sprache und Gemeinschaft empirisch beweisen konnte.
Die seinerzeit aufsehenerregende Hattie-Studie, welche 2009 internationale empirische Bildungsstudien ausgewertet hat, stellte erstaunliche Ergebnisse fest, als es um die Gewichtung von Einflussfaktoren auf den schulischen Erfolg ging: Hohe Effektstärken haben „Klarheit der Lehrperson“, „Reziprokes Lehren“ und „Feedback“, geringe Effektstärke sind „Computerunterstützung“, „Web-basiertes Lernen“ und „Fernunterricht“.
Andererseits hat die Bildungsforschung herausgefunden, dass lediglich durch die Gewährleistung einer guten Verzahnung von Präsenzlehrveranstaltungen und digitalen zusätzlichen Angeboten im sogenannten „blended learning“/“integriertem Lernen“ digitale Lehrangebote optimal eingesetzt werden können. Für den sinnvollen Einsatz alleinig digitaler Angebote gibt es derzeit in den Bildungswissenschaften keine überzeugenden Beweise.
Aufgrund dessen sollten digitale Lehrangebote lediglich als „Ad-Ons“ zur Präsenzlehre begriffen werden, da Erkenntnisgewinn aus dem reziproken Verhältnis von Lehrenden und Lernenden entsteht.
In krisenhaften Ausnahmesituation wie die derzeitige COVID-19-Krise kann das Ausweichen auf digitale Lösungen lediglich eine Teil-Kompensation ausgefallener Präsenzlehre darstellen. Sie ist aber kein Ersatz und sollte nicht als solcher behandelt werden, da digitale Lehrangebote immer von reeller Betreuung von Lehrpersonen begleitet werden muss.
Im übrigen sind längst nicht alle Dozentinnen und Dozenten der Hochschulen darauf eingestellt und dazu befähigt, mit Online-Plattformen umzugehen.
Konsequenzen für das Studium im Sommersemester 2020:
Es dürfen bei dem bereits beschlossenen späteren Semesterstart keine Nachteile bei den Studierenden entstehen. Auf Grundlage der Erkenntnisse der Bildungswissenschaften und Bildungstheorie kann konkludiert werden, dass reine Online-Lehrangebote nicht die selbe pädagogische Qualität wie Präsenzveranstaltungen entfalten können. Um den Studierenden dennoch die Chance zu eröffnen, ihr Studium fortzusetzten, kann es ein geeignetes Mittel sein, digitale Angebote, welche auf Grundlage bildungs- und lerntheoretischer Erkenntnisse konzipiert wurden, anzubieten.
Dabei steht außer Frage, dass eine reine Überführung von Präsenzveranstaltung in Online-Formate nicht das geeignete Mittel sein kann.
Weiterhin ist klar: Sollten von den Universitäten und/oder Dozierenden digitale Lehrangebote den Studierenden zur Verfügung gestellt werden, dürfen die Inhalte dieser Kurse auf keinen Fall am Ende des verkürzten Semesters in der gleichen Form wie Präsenzveranstaltungen abgeprüft werden. (Sondern am besten gar nicht. Legitim wären diese Maßnahmen lediglich als freiwillige Angebote zur Vorbereitung auf die Präsenzzeit!)
Es eröffnet sich derzeit die Chance Prüfungsleistungen neu zu denken und zu entwickeln, welche nicht nur während der Schließung der Universitäten und Hochschulen durch den Corona-Virus zum Einsatz kommen können, sondern auch in Zukunft Anwendung finden können.
Prüfungen, die auf bestehenden Wissensvermittlungen aufbauen, müssen nun in einem handlunsgorentierten und kreativen Verfahren abgenommen werden und technische dafür Mittel genutzt werden. Dabei muss auch hier von den Dozierenden sicher gestellt werden, dass die Studierenden bei der Erstellung der Prüfungsleistungen die notwendige Unterstützung und Ressourcen zur Verfügung stehen.
Vorschläge der Gewerkschaften wurden ignoriert, hierdurch entstehen nun soziale Härten
Dass Lehre nicht ordnungsgemäß erfolgen kann , darf nicht zu Nachteilen der Studieren führen. Nicht bestandene Prüfungen, ein ersatzloser Ausfall von Angeboten oder auch die Möglichkeite einer Nicht-Teilnahme bei Angebote durch zu viele Studierende und der damit einhergehende Semesterverlust bei den normativ gesetzten „Regelstudienzeiten“ beim BAföG können zu finanziellen Problemen von Studierenden führen. Die zuständigen Ministerien und Universitäten müssen sich ihrer Aufgabe gewahr werden und falls Lehre nicht im vollen Maß angeboten und somit Prüfungen nicht abgenommen werden können, muss eine entsprechende Regelung beim BAföG gefunden werden, damit Studierende kein „Semester verlieren“. Es ist nicht die Schuld der Studierenden, dass sehr viele Studierende jetzt in finanzielle Schwierigkeiten kommen, viel mehr wurden in den letzten Jahren zahlreiche Möglichkeiten verpasst, um das BAföG wieder zu einer breiten Studienfinanzierung zu machen. Es hätten niedrigere Schwellenwerte, eine Entbürokratisierung und die Entscheidung zum Vollzuschuss geschehen müssen, um dafür zu sorgen, dass heute nicht 67% der Studis in sehr prekären Jobs arbeiten müssen, wie z.B. der Gastro oder auf Messen, um ihre Ausbildung zu finanzieren. Auch die Anstellung als studentische oder wissenschaftliche Hilfskraft wirkt aus der jetzigen Perspektive nicht existenzsichernd: Die meisten studentischen Beschäftigten haben nur sehr kurze Vertragslaufzeiten, der Lohn von wenigen Cents über dem Mindeslohn sichert auch die Zahlung der Fixkosten nicht weiter ab. Auch hier wurde die Forderungen der Gewerkschaften, endlich auch die studentischen Hilfskräfte in den Tarifvertrag der Länder aufzunehmen, ignoriert.
Kontakt zum BASS:
Adrian Weiß (017660854290)
Nathalie Schäfer (015759219823)