Eckpunkte für eine qualitative Studienreform

veröffentlicht im Dezember 1998

In der offiziellen Diskussion um die Perspektiven des Tertiären Bildungsbereichs wird eine inhaltliche Studienreform weitgehend ausgeblendet. Ansatzpunkt für eine solche überfällige Studienreform kann nur eine kritische Bestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft sein. Dementgegen überlagert der Trend zur Ökonomisierung des Hochschulsystems, der sich in einem Politikmix aus Haushaltskürzungen, Effizienzdiktaten, Wettbewerbs- und Standortmetaphorik ausdrückt, die erforderliche ergebnisoffene bildungs- und hochschulpolitische Meinungsbildung.

Eine inhaltliche Studienreformdiskussion muß sich demgegenüber an folgenden Fragestellungen orientieren:

  • die Zusammenhänge zwischen der Reform der Strukturen (Studiendauer, gestufte Abschlüsse, Verhältnis Fachhochschulen Universitäten z.B.) und der inhaltlichen Reform des Studiums (Ausbau problemorientierter Lernformen z.B.),
  • die Zusammenhänge von Studienreform, Wissenschaft und Gesellschaft,
  • die gleichberechtigte Beteiligung von Studierenden mit ihren individuellen Voraussetzungen, Interessen und Fähigkeiten an der Gestaltung von Studiengängen,
  • die Öffnung der Hochschulen durch die Gleichstellung beruflicher und wissenschaftlicher Bildung sowie die Stärkung solcher Hochschulfunktionen wie berufsbegleitender Studienangebote und berufsunabhängiger wissenschaftlicher Weiterbildung.

Bildung und Ausbildung sind wichtige Voraussetzungen für die Gestaltung des individuellen Lebens. Das Studium dient nicht allein der Berufsausbildung, sondern darüberhinaus dem Erwerb von Fähigkeiten und Kenntnissen zur selbstverantwortlichen Lebensgestaltung, das heißt auch: zur gesellschaftlichen und politischen Mitwirkung. Es soll daher wissenschaftliche Fach- und Methodenkenntnisse und -kompetenzen vermitteln, dabei gleichzeitig Frage- und Kritikfähigkeit, Skepsis und Zweifel fördern. Die Hochschulen als Institutionen der Integration von Wissenschaft, Bildung und Ausbildung sind ein wichtiger Ort, an dem über die zukünftigen Entwicklungen der Gesellschaft nachgedacht werden soll.

Eine erfolgreiche Studienreform ist unmittelbar verknüpft mit der Gleichstellung von Frauen und Männern in Lehre, Forschung und Studium, mit der Verbesserung der sozialen Lage der Studierenden, einer Reform der Personalstruktur und -ausstattung sowie der Stärkung demokratischer Selbstverwaltung der Hochschulen im Rahmen öffentlichen Verantwortung für ihre Finanzierung.

Mit dem vorliegenden Positionspapier wollen wir Anstöße für die Erneuerung einer Studienreformdiskussion in Hochschule, Öffentlichkeit und Politik geben.

Wissenschaft, Praxis, Beruf

Wissenschaftliche Fachdisziplinen und die Nachfrage des Arbeitsmarktes unterliegen einer immer kurzfristigeren Veränderungsdynamik, auf die Studierende mit individualisierten Qualifizierungswegen und -profilen reagieren, die von traditionellen Bildungsbiographien zunehmend abweichen. Gerade vor diesem Hintergrund muß Hochschulbildung im Sinne einer breiten beruflichen Grundqualifizierung verstanden werden, die zu dauerhafter Berufsfähigkeit, nicht aber zu enger berufsspezifischer Einbindung in einer arbeitsteilig definierten Nische führt. Studienreform soll ihrerseits aus wissenschaftlicher Problemlösungskompetenz Anstöße zur Entwicklung neuer Berufsbezüge und -möglichkeiten in bestehenden und erweiterbaren Beschäftigungsbereichen geben.

Die genannte soziale Veränderungdynamik ist allerdings kein naturgesetzlich ablaufender Vorgang, sondern politisch gestaltbar bzw. in ihren Konsequenzen zugleich politisch umstritten. Dies färbt auch auf die Bildungsreformdebatte ab. So wäre es etwa falsch, von der Internationalisierung der Ökonomie („Globalisierung“) umstandslos auf die (formale) Notwendigkeit lebenslangen Lernens zu folgern, wie dies häufig geschieht. Die Begründung, daß mit dem Grad der Beschleunigung von technischen Innovationen und Vermarktungsstrategien erworbenes Wissen im gleichen Tempo entwertet würde, trägt nicht. Erstens gibt es keinen logischen Zusammenhang zwischen der (ständigen) ökonomischen Entwertung technologischer Arrangements auf Märkten und der Gültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse und Befähigungen. Zweitens müssen gerade unter den gegenwärtigen Bedingungen Bildung und Wissenschaft als marktkomplementäre gesellschaftliche Funktionen betrachtet werden. Ihr Gegenstand ist die Gesamtheit der sozialen Lebenswelt, einschließlich der perspektivischen gesellschaftlichen Zukunftsfragen.

Statt einer eindimensionalen Orientierung des Studiums an eng umrissenen und kurzfristig verwertbaren Berufsprofilen muß ein problemorientierter Praxisbezug die Studienangebote bestimmen.

Dem stehen etwa Versuche entgegen, Studiengänge nach den Kriterien „berufsbefähigend“ und „wissenschaftsorientiert“ hierarchisch zu differenzieren. Diese Unterscheidung ist weitgehend ideologisch konstruiert. Theorie und Praxis sind lediglich verschiedene Aspekte eines einheitlichen gesellschaftlichen Arbeits- und Lebensprozesses, der gerade in Bildungsphasen als ganzheitlicher rekonstruiert werden muß.

Dieser Ansatz bedeutet keineswegs, das bestehende Berufssystem zu ignorieren. Im Gegenteil! Er schließt die kritische Reflexion der bestehenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung (unter fachlichen ebenso wie unter sozialen und geschlechtsspezifischen Kriterien) ein. Aus wissenschaftlichen Erkenntnissen und Lernprozessen müssen verstärkt politische Impulse zur Entwicklung neuer Berufsfelder und zur zunehmenden Regulierung gesellschaftlicher Arbeit in Richtung ökologischer Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit erwachsen.

Wissenschaftlichkeit, Theorie- und Praxisbezug sind daher unabtrennbare Bestandteile aller Studiengänge und -abschnitte.

In diesem Sinne ist Studium wissenschaftliche Berufsausbildung. Eine solche Funktion kann es nur im Zusammenhang mit einem gesamtgesellschaftlichen Projekt ökologisch-sozialen Umbaus haben. Dieser Zusammenhang – und dieses Spannungsverhältnis – zu einem politischen Reformprojekt muß in der unmittelbaren hochschulbezogenen Studienreformdiskussion sichtbar sein. Ohne diesen gesellschaftlichen Bezug werden modische Begriffshülsen, mit denen Bildungsreform aktuell begündet wird („lebenslanges Lernen“, „Autonomie“, „Praxisorientierung“, „Modularisierung“, „Inter-disziplinarität“, „Evaluation“) zu rein technischen Leerformeln, die ihrerseits die Entpolitisierung einer „Hochschulreform“, die diesen Namen nicht verdient, befördern.

Eine Reform des Studiums als wissenschaftliche Berufsausbildung im genannten Sinne erfordert die Entwicklung eines durchlässigen, horizontal differenzierten Bildungssystems mit unterschiedlich gewichteten Theorie- und Praxisanteilen, mit der Erleichterung des Wechsels von Arbeits- und Bildungsphasen im Kontext einer gesamtgesellschaftlichen Umverteilung von Arbeit. Auf diese Weise wird nicht nur die Hochschullandschaft verändert, sondern die gesamte berufliche Aus- und Weiterbildung einbezogen. Eine strikte institutionelle und selektive Trennung zwischen Fachhochschulen, Universitäten, Gesamthochschulen und anderen Organisationsformen ist perspektivisch überflüssig.

StudentInnen sollen künftig zwischen gleichwertigen und kombinierbaren Studienangeboten und nicht zwischen Hochschultypen wählen können.

Interdisziplinarität

Der Ausbau interdisziplinärer Studienangebote einschließlich der Verankerung ökologischer, feministischer und sozialer Fragestellungen in der Lehre ist notwendig. Schwerpunktmäßig müssen Lehr- und Forschungsprojekte zwischen Natur- und Gesellschaftswissenschaften gefördert werden.

Interdisziplinäre Orientierung in diesem Sinne ist integraler Bestandteil von Studienreform. Dabei handelt es sich folglich nicht um einen akademischen Denkstil, sondern um eine Notwendigkeit, die aus dem gesellschaftlichen Problemlösungsbezug wissenschaftlicher Qualifikationsprozesse erwächst. Angesichts der Komplexität und Interdependenz von sozialen, ökologischen, ökonomischen und technischen Fragestellungen ist ein Denken in abgegrenzten Fächern zunehmend in Frage gestellt.

Diesen Anforderungen werden die heutigen Hochschulstrukturen nicht gerecht. Die universitären Studiengänge sind überwiegend noch den historisch überlieferten Wissenschaftsdisziplinen angegliedert. Die Fachhochschulstruktur folgt eher der technischen Organisation des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses. Die gegenseitige Abgrenzung beider Hochschultypen und die zunehmende vertikale Differenzierung von Studiengängen nach Pseudokriterien wie „praxisorientiert“ versus „theoriebezogen“ verschärft diese Integrationsdefizite des Hochschulsystems, die zugleich Defizite seiner gesellschaftlichen Problemlösungskompetenz sind.

Die stärkere Modularisierung gleichwertiger Studienangebote in Anlehnung an ein Baukastensystem ermöglicht hingegen die Integration problemorientierter und damit interdisziplinärer Studieninhalte in bestehende Studiengänge und erlaubt Studierenden eine selbstbestimmtere Gestaltung ihres Studiums.

Internationalität

Die Durchlässigkeit der deutschen Hochschullandschaft muß auch für ausländische Studierende erhöht werden. Erforderlich sind etwa Veränderungen des restriktiven Ausländerrechts und verbesserte Serviceangebote an den Hochschulen – z.B. durch zielgruppenspezifische Studienberatung, Brücken-kurse oder internationale Gästehäuser.

Zur Förderung von Auslandsaufenthalten einheimischer StudentInnen sollte ein System der Zertifizierung von Studienleistungen und Abschlußprüfungen aufgebaut werden, das sich an das „europäische System zur Anrechnung von Studienleistungen“ (ECTS) anlehnt. Hierbei muß der Grundsatz „Gleichwertigkeit vor Gleichförmigkeit“ gelten. Ein solches System soll die gegenseitige – nationale wie internationale – Anerkennung von erbrachten Studienleistungen erleichtern, die Modularisierung von Studiengängen unterstützen und eine individuellere Gestaltung des Studiums erlauben. Auch das Studium ausländischer StudentInnen kann hierdurch gefördert werden.

Entsprechend müssen sich die Studienangebote ändern: Fremdsprachliche Studiengänge oder Lehranteile, Sprachkurse, Tutorienprogramme, Praktika im Ausland, Auslandssemester sollten von den Hochschulen angeboten bzw. gefördert werden. Förderung von internationaler Mobilität setzt schließlich Regelungen für die Studienfinanzierung voraus. Die derzeitigen BAföG-Bestimmungen sind unzureichend. Hier muß eine 20. BAföG-Novelle ansetzen. Außerdem sollten zusätzliche Stipendienprogramme für Auslandsaufenthalte aufgelegt werden.

Lebensbegleitendes Lernen

Ein demokratisches, sozial offenes und durchlässiges Bildungssystem muß lebensbegleitendes Lernen ermöglichen. Ein solches Konzept ist Bestandteil des Rechtes auf Bildung, das heißt: auf die lebenslange Teilhabe an der Entwicklung von Wissenschaft und Kultur. Zugleich richtet es sich gegen die Reduzierung gesellschaftlicher Entfaltungsmöglichkeiten der Individuen auf eine einmal erworbene Berufsrolle. Es handelt sich also um eine Politik individueller und gesellschaftlicher Emanzipation.

Lebensbegleitendes Lernen kann daher nicht bedeuten, Bildungsangebote lediglich formal zu verkürzen und in dosierten Portionen auf die gesamte Lebensspanne umzuverteilen, wie es einem gängigen neoliberalen Verständnis von „Modularisierung“ und „Lebenslangem Lernen“ entspricht. Eine Bildungsreform, die lebensbegleitendes Lernen ermöglicht, darf folglich erst recht nicht auf eine finanzielle und strukturelle Abwertung des staatlichen Bildungssystems zugunsten eines privaten Weiterbildungsmarktes hinauslaufen.

Die Erfordernisse lebensbegleitenden Lernens bedeuten eine Aufwertung der beruflichen Erstausbildung (einschließlich des Studiums) ebenso wie eine Stärkung des öffentlichen Bildungssektors insgesamt.

Die Qualifizierung zum lebensbegleitenden Lernen steht in direkter Relation zum Niveau dieser Erstausbildung. Die entscheidende persönliche und gesellschaftliche Schlüsselqualifikation ist folglich die Befähigung zur selbständigen wissenschaftlichen Urteilsbildung. Die Chance, eine solche Befähigung zu erwerben, kann nicht länger Resultat der Selektion innerhalb eines hierarchischen Bildungssystems sein, sondern muß grundsätzlich allen Menschen offenstehen.

Die bislang als getrennte Politikfelder betrachteten Sektoren der Bildung – Schule, Hochschule, berufliche Bildung und Weiterbildung – sind als zusammengehörige Bestandteile eines kontinuierlichen Bildungsprozesses innerhalb eines einheitlichen und integrierten Bildungssystems zu gestalten. Dafür muß eine curriculare und organisatorische Verzahnung von Erstausbildung und Weiterbildung stattfinden. Reformen in spezifischen Bildungseinrichtungen müssen immer auch im Hinblick auf ihre Anschluß- und Integrationsfähigkeit innerhalb des Gesamtsystems bewertet werden.

Zu diesem Zweck muß durch Gewerkschaften und Politik die gesetzliche und tarifvertragliche Absicherung von Weiterbildungszeiten als Teil des Erwerbslebens durchgesetzt werden. Das Ansparen von Lebensarbeits- und Bildungszeitkonten im Rahmen einer Strategie allgemeiner Arbeitszeitverkürzung stärkt die Kontinuität selbstbestimmter individueller Bildungsbiographien. Bildungskapazitäten, die heute oft genug als „Beschäftigungsphasen der Überbrückung von Arbeitslosigkeit“ dienen, können im Rahmen einer verzahnten Bildungs- und Beschäftigungspolitik produktiver eingesetzt werden.

Lebensbegleitendes Lernen muß schließlich durch die Struktur der Studienangebote gestützt werden. Diese müssen etwa auch ein Teilzeitstudium durch Kombination einzelner Module erlauben und organisatorisch ermöglichen. Mit solchen Angeboten könnte gleichzeitig ein wachsendes Interesse an wissenschaftlicher Bildung – mit oder ohne beruflichem Verwertungsanspruch – von Menschen verwirklicht werden, die nicht erwerbstätig sind oder durch solidarische Umverteilung der notwendigen gesellschaftlichen Arbeit über mehr disponible Zeit verfügen.

Modularisierung des Studiums

Eine gesellschaftlich effektive Studienreform muß sich aus der Problemwahrnehmung eines technisch reduzierten Praxisverständnisses ebenso lösen wie aus der Unterordnung der Studienfächer unter wissenschaftliche Einzeldisziplinen. Es wird zunehmend erforderlich sein, Studienziele um komplexe Berufs- und Tätigkeitsfelder herum zu definieren. Der Erwerb eines Abschlußzertifikats würde sich dann aus konsekutiven Studienabschnitten ergeben, die auf exemplarische Problemfelder ausgerichtet sind. Die Kombination verschiedener didaktischer Formen (Vorlesung, Gruppen- und Projektarbeit, Tutorien, Kolleg, Selbststudium) ist in freier Vereinbarung zwischen Studierenden und Lehrenden dem jeweiligen Problemlösungsziel des Studienabschnitts zugeordnet. Für die Erreichung der jeweiligen Studienziele wird eine Mindeststudienzeit festgelegt. Die zu ihrer Erreichung notwendige Addition von Studienabschnitten sollte frei kombinierbar, d.h. nicht mehr an die Verpflichtung eines Vollzeit-Präsenzstudiums gebunden sein: zwischenzeitliche Berufstätigkeit oder Familienarbeit wären so möglich.

Bei einer solchermaßen verstandenen Modularisierung entfiele die Notwendigkeit, spezielle Teilzeitstudiengänge (für das Erststudium) einzuführen, die lediglich auf einer technokratischen Verdoppelung der Zulassungszahlen bei gleichbleibend niedrigen Aussstattungsmitteln beruhen würden.

Die Studienstruktur ist folglich nach und nach so zu verändern, daß sich das Studium aus Modulen zusammensetzt. So hätte zum Beispiel ein koordiniertes Studieneinstiegsmodul orientierende Funktion hinsichtlich der Studieninhalte, der Funktionsweise der Hochschule und der Formen von Interessenwahrnehmung an der Schnittstelle von Hochschulpolitik und Studienorganisation. Hier werden grundlegende Arbeitsweisen und Orientierungsfähigkeit an der Hochschule erlernt, die es den StudentInnen ermöglicht, weitgehend eigenverantwortlich zu studieren.

Module sind in diesem Verständnis in sich abgeschlosssene, problemorientierte Studienelemente, die in einem vorgegebenen Rahmen obligatorischer Studienanteile konsekutiv, kombiniert oder einzeln studiert werden können. Die Hochschulen haben auf Grundlage einer modularisierten Studienstruktur unter bestimmten Rahmenvorgaben eigenständige Studienprofile zu entwickeln und die Durchlässigkeit zwischen den Studiengängen der verschiedenen Hochschularten zu erhöhen. Langfristig wird damit die formale Trennung nach verschiedenen Hochschularten überwunden. Hierbei muß überprüft werden, ob die formelle Unterscheidung zwischen grundständigen Studiengängen und Aufbau-, Zusatz- und Ergänzungsangeboten noch sinnvoll ist.

Die Abschlußprüfung wird durch eine studienbegleitende Zertifizierung der Module ersetzt. Ein akademischer Grad wird verliehen, wenn eine in der Prüfungsordnung festgelegte Anzahl von Modulen mit definierten Anforderungen erfolgreich studiert worden ist. Im Zusammenhang mit der Modularisierung des Studiums können daher die Regelstudienzeiten abgeschafft werden.

Durch diese offene und durchlässige Gliederung des Studiums werden für StudentInnen mehrere Zugangs- und Abgangsmöglichkeiten geschaffen. Diese Abkehr vom klassischen Prinzip eines in sich geschlossenen Studiengangs, in dem es nur an der Schnittstelle Grund- und Hauptstudium Zugangs- und Abgangsmöglichkeiten gibt, die zudem oft restriktiv gehandhabt werden und eine selektive Funktion erfüllen, entspricht den aktuellen gesellschaftlichen Anforderungen.

Studienberatung institutionell stärken!

Eine stärkere Modularisierung und horizontale Differenzierung von Studienangeboten erfordet eine institutionelle Stärkung der Studienberatung ebenso wie ein neues Verständnis derselben. Statt sich in bloßer Rechtsberatung oder technischer Informationsweitergabe zu erschöpfen, müssen Einrichtungen der Studienberatung Kooperationspartner einer ständigen Studienreform sein. Die Studienbüros an der TU Berlin sind in diesem Sinne ein entwicklungsfähiger Ansatz. Sie erfüllen ihre Funktion, indem sie ganz bewußt an der Schnittstelle von studentischen Erwartungen und Anforderung einerseits und einer kritischen Bewertung der Studienangebote andererseits agieren.

Studienberatung ist als professionelle wissenschaftliche Berufsausübung gleichwertig mit anderen entsprechenden Tätigkeiten an der Hochschule und bedarf einer adäquaten Absicherung in Form von Funktionsstellen. Gleichzeitig müssen alle Statusgruppen der Hochschule – ggf. in befristeten Beschäftigungsverhältnissen – in die Studienberatungspraxis ebenso einbezogen werden wie die jeweiligen Gleichstellungseinrichtungen.

Studienberatung ist last not least mit einer gesellschaftlichen Problematik in der Spannweite zwischen studentischen Eingangsqualifikationen, Studienreform und Arbeitsmarktentwicklung konfrontiert. Daher wäre perspektivisch zu überlegen, ob Studienberatungseinrichtungen zu umfassenderen gesellschaftlichen Transferstellen zwischen Schule, Hochschule und Praxis weiterentwickelt werden könnten, um Reformimpulse in all die genannten Richtungen zu entwickeln.

Studienabschlüsse

Mit der Begründung, daß deutsche Hochschulen für ausländische Studierende nicht attraktiv genug seien, wird gegenwärtig die Einführung gestufter Studienabschlüsse nach angelsächsischem Vorbild von „Bachelor“ und „Master“ vorbereitet. Dabei ist zwischen den verschiedenen hochschulpolitischen Akteuren noch völlig ungeklärt, ob es sich dabei um ein durchlässiges Konsekutivmodell oder um ein Selektionsmodell, um komplementäre Angebote oder um die zukünftige Studienstruktur handeln soll, welche das traditionelle deutsche Zertifizierungssystem entwertet und perspektivisch ersetzt. Folglich drängt sich der Verdacht auf, daß vor allem bei der Wissenschaftsadminstration die Zielsetzung einer formalen Verkürzung – und damit Verbilligung – des Massenstudiums nach dem Motto „bachelor für viele“ und „master für wenige“ im Vordergrund steht. Es ist definitv keine Hochschulreform, wenn lediglich neue Etiketten erfunden oder obligatorische Bestandteile aus traditionellen Studiengängen einfach gestrichen werden, um das so zusammengedampfte Kondensat dann „bachelor“ zu taufen.

Dabei spricht grundsätzlich ebensowenig gegen eine stärkere Pluralisierung kombinierbarer Studienabschlüsse wie gegen eine verbesserte internationale Transparenz des deutschen Studiensystems. Ein solcher Reformprozeß muß jedoch auf eine völlig andere gesellschaftliche und bildungspolitische Grundlage gestellt werden als es der gegenwärtig dominierenden technokratischen Differenzierungspolitik entspricht.

Die Einführung neuer Studienstrukturen und -abschlüsse muß stattdessen von einer inhaltlich und didaktisch ausgewiesenen Studienreform in Richtung der Modularisierung begleitet werden. Eine hierarchische Zweiteilung des Studiums ist dabei entschieden abzulehnen. Es geht um die Kompatibilität, gegenseitige Durchlässigkeit und Kombinierbarkeit fachlich transparenter Studien-abschnitte (die Frage nach den Etiketten ist dem inhaltlichen Studienreformprozeß nachgeordnet; aus Gründen internationaler Wiedererkennungseffekte kann es sich durchaus um „bachelor“ und „master“ handeln). Die juristische Anerkennung neuer Abschlüsse schließlich setzt kalkulierbare Berufsangebote und -chancen ebenso voraus wie eine entsprechende Reform des öffentlichen Dienstrechtes.

Evaluation

Das Verlangen nach einer regelmäßigen Evaluation von Hochschulleistungen ist mittlerweile bereits in die Hochschulgesetzgebung eingeflossen. In der Praxis konkurrieren dabei verschiedene, nicht immer transparente Ansätze von Evaluationsverfahren in der Spannweite von Unternehmensberatung und ernsthaften Versuchen einer Enthierarchisierung von Entscheidungsstrukturen miteinander.

Der politische und wirtschaftliche Druck auf verstärkte Evaluation hat einen realen gesellschaftlichen Kern: die mangelnde öffentliche Ergebnis- und Leistungstransparenz des deutschen Hochschulsystems. Dies ist vor allem ein Folge blockierter Entwicklungsfähigkeit angesichts der Mehrheitsverhältnisse in den Selbstverwaltungsgremien und der nivellierenden Wirkung des professoralen Kollegialitätsprinzips. So dient die aktuelle Evaluationspraxis häufig dazu, mittelbar die Akzeptanz neuer Hochschul-steuerungsmodelle durch ökonomische Kennziffern zu stärken und perspektivisch die Gruppenuniversität abzuschaffen.

Grundsätzlich kann Evaluation unter bestimmten Umständen Mißstände und Defizite an der Hochschule aufdecken, diese aber nicht selbst abstellen. Die Verständigung über Evaluationsverfahren setzt folglich die Verständigung über hochschulpolitische Zielsetzungen voraus und kann diese ebensowenig ersetzen. Unter Bedingungen anderer Fragestellungen und Methoden als denen bloßer ökonomischer Effizienzsteigerung kann Evaluation auch sinnvoll sein; wenn sie sich etwa als eine Übergangsmaßnahme begreift, die auf das Ziel der Demokratisierung der Gruppenhochschule und einer Erhöhung des gesellschaftlichen Gebrauchswertes der Wissenschaft ausgerichtet ist. Dabei müssen die folgenden Grundsätze gelten:

Erstens, daß der Gegenstand der Evaluation in einer kritischen Bestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft – bzw. von evaluierten Hochschulabteilungen und den ihnen zuzuordnenden gesellschaftlichen Praxisfeldern – begründet ist. Die Hochschule kann nicht nach rein „internen“ Kriterien, das heißt, ohne einen gesellschaftlichen Bezug, bewertet werden. Zweitens, daß Evalutionsverfahren Reformprozesse der Hochschulstrukturen, insbesondere der Selbstverwaltungsgremien, zwar anstoßen, aber nicht ersetzen können. Evaluationsprojekte können daher ebensowenig den Status politisch nicht legitimierter Entscheidungsorgane annehmen. Drittens, daß alle von Evaluation Betroffenen gleichberechtigt in die Definition von Zielen, in Verfahren und anschließende Leistungsvereinbarungen einbezogen werden. Dazu gehören auch VertreterInnen der gesellschaftlichen Praxis, auf welche die jeweilige Fachrichtung zielt. Die so phasenweise ermöglichte bessere Kommunikation und Kooperation in Studium und Lehre, kann, wenn sie kein Strohfeuer bleiben soll, nur dann institutionalisiert werden, wenn sie in eine Demokratisierung der Selbstverwaltungsgremien mündet.

Hochschulzugang erweitern

Das gesellschaftliche Interesse an einem Hochschulstudium ist gestiegen und wird weiter steigen. Gesellschaft und Wirtschaft benötigen künftig nicht weniger, sondern mehr hochqualifiziert ausgebildete Menschen. Das deutsche Bildungssystem ist aber nach wie vor hierarchisch und selektiv. Bildungschancen werden indirekt der sozialen, geschlechtlichen oder regionalen Herkunft entsprechend ungleich verteilt, Menschen aus bildungsfernen Schichten entsprechend benachteiligt. Dies korrespondiert mit einer „von oben“ betriebenen Politik sozialer Deregulierung, die gesellschaftliche Beschränkungen zu persönlichen Beschränktheiten umdefiniert.

Den Hochschulzugang weiter einzuschränken oder künstlich zu kanalisieren, ist der falsche Schritt. Eine offensive Bildungspolitik muß deshalb durch Maßnahmen der Integration und Gleichstellung allgemeiner, beruflicher und wissenschaftlicher Bildung ergänzt werden. Der Hochschulzugang für Berufstätige muß deutlich ausgebaut und gefördert werden. Neben der generellen Anerkennung der Meisterprüfung als fachgebundener Hochschulreife soll jegliche Berufsausbildung auch das Studium in einem dieser Ausbildung komplementären Wissenschaftsbereich ermöglichen. Bei der Anrechnung berufspraktischer Erfahrungen als Hochschulzugangsberechtigung müssen ergänzend zum traditionellen Erwerbssektor auch Tätigkeiten in sozialen und kulturellen Praxisfeldern, darüberhinaus beim Hochschulzugang ohne Abitur Familienarbeit oder Qualifikationen, die durch unbezahlte oder ehrenamtliche Arbeit erworben wurden, positiv anerkannt werden.

Finanzielle Zugangshemmnisse und Sanktionen in Form von Studiengebühren, Prüfungsgebühren, Bildungsgutscheinen, Gebühren für höhere Semester oder Einschreibe- und Rückmeldekosten sind abzulehnen. Möglichst viele Studierwillige sollen die von ihnen favorisierten Studienangebote wahrnehmen können. Weitere Hürden in Form einer spezifischen „Studierfähigkeitsfeststellung“ zusätzlich zur Hochschulzugangsberechtigung oder eine hochschulinterne Auswahl von StudentInnen auf Basis von Prüfungen bzw. Auswahlgesprächen sind abzulehnen.

Der Minimalkonsens jeder Hochschulreform muß daher sein, daß erstens Studiengebühren bundeseinheitlich gesetzlich zu verbieten, daß zweitens rechtliche Regelungen, die spezielle Hochschulaufnahmeverfahren nach den diffusen Kriterien „Eignung“ und „Motivation“ in NC-Fächern ermöglichen, abzuschaffen sind.

Die traditionelle Struktur des Bildungssystems widerspricht realen Entwicklungen im gesellschaftlichen Arbeitsprozeß. Dieser ist von zunehmender Integration beruflicher, wissenschaftlicher und sozialkultureller Qualifikationsmerkmale gekennzeichnet. Eine Politik, die auf soziale Integration und Verbesserung von Bildungschancen ausgerichtet ist, muß daher gerade die nicht-automatisierbaren komplexen Qualifikationen der Menschen durch Ausbildung und Weiterbildung in der größtmöglichen sozialen Breite fördern.

AutorInnen/ErstunterzeichnerInnen:

Frauke Gützkow (GEW), Sabine Kiel (Bündnis 90/ die GRÜNEN), Torsten Bultmann (BdWi)

ErstunterstützerInnen:

Stephan Bethe, Bundesgeschäftsführer der Juso-Hochschulgruppen; Joachim Koch-Bantz, DGB-Bundesvorstand Abteilung Bildung; Frieder Otto Wolf, Mitglied des Europaparlaments, Bündnis 90/die GRÜNEN; Michael Kellner, ReferentInnenrat der Universität Potsdam; Ulrike Gonzales, Vorstandsmitglied des fzs; Jochen Geppert, Freie Universität Berlin; Klaus Luther, Referent der AG Bildungspolitik der SPD-Bundestagsfraktion; Bernd Kaßebaum, IG Metall-Hauptvorstand, Abteilung Bildung; Gregor Kaiser, AStA-Vorsitzender der Uni Bonn; Lennart Laberenz, ReferentInnenrat HU Berlin; Andreas Ahrens, Vorstandsmitglied des fzs; Julia Koppke, Die Grünen GAL-Bürgerschaftsfraktion Hamburg; Sybille Knapp, Sprecherin der BAG Wissenschafts-, Hochschul- und Technologiepolitik, Bündnis 90/die Grünen; Irmingard Schewe-Gerigk, Frauenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/die GRÜNEN; Sandra Brunner, AK Studierendenpolitik in und bei der PDS; Juso Hochschulgruppen; freier zusammenschluß von studentInnenschaften, fzs; Projektgruppe Hochschulreform NRW; Roland Holder, Landes-Asten-Konferenz Bayern; Landes-Asten-Treffen Nordrhein-Westfalen; AStA Uni Münster; Markus Gottsleben, Landes-Asten-Konferenz Hessen; AStA Uni Bonn; LAG-Hochschulpolitik Bündnis 90/die Grünen NRW;