Stellungnahme zur Novellierung des Bundesteilhabegesetzes

Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung werden in unserer Gesellschaft nach wie vor strukturell, institutionell und individuell ausgegrenzt und benachteiligt. Die sich offiziell offen und „tolerant“ gebende deutsche Gesellschaft stellt ihre Kehrseite hier deutlich heraus: kapitalistische Verwertungsideologie und systemische Abwertungsmechanismen gegenüber als von der Norm abweichend gesehenen Menschen.

Der Anspruch an ein Bundesteilhabegesetz sollte dementsprechend sein, diesen diskriminierenden Strukturen entgegenzuwirken: Menschenrechte müssen wichtiger als fiskalische Interessen sein, und allen Menschen müssen alle Bereiche sozialen Lebens offenstehen.

Doch diesem Anspruch wird der Gesetzentwurf zum „Bundesteilhabegesetz“ der Bundesregierung in keinster Weise gerecht. Stattdessen wird Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung weiter das Leben erschwert. Im Nachfolgenden positioniert sich der fzs zu den bildungspolitischen Dimensionen des Gesetzentwurfs, welche einen eklatanten Verstoß gegen die, von Deutschland 2007 unterzeichnete und 2009 als innerstaatliches Recht in Kraft getretene UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) darstellen. Der FZS sieht insbesondere massive Verletzungen von Art. 24 Abs. 5 UN-BRK, der die Vertragsstaaten verpflichtet, Menschen mit Behinderung einen gleichberechtigten und diskriminierungsfreien Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung zu ermöglichen.

1. Anspruch auf Integrationshelfer*innen

Mit der Regelung, dass eine erhebliche Einschränkung bei der Teilhabe an der Gesellschaft gegeben sein muss, sehen wir eine Bedrohung für die individuelle Gewährleistung des Grundrechts auf Bildung. Menschen, die in weniger als fünf Teilbereichen nicht ohne personelle oder technische Unterstützung auskommen oder in weniger als drei Teilbereichen auch mit dieser Unterstützung eingeschränkt werden, sollen nur im Ausnahmefall für die Eingliederungshilfe leistungsberechtigt sein. Hiermit sind Studierende und andere Bildungssubjekte, die nur im Teilbereich 1, „Lernen und Wissensanwendung“ oder in bis zu vier bzw. zwei Teilbereichen beeinträchtigt/über Unterstützung hinaus beeinträchtigt sind, nicht mehr oder nicht gefördert.

De facto befürchten wir durch diese Regelung eine drastische Einschränkung der Rechte von betroffenen Schüler*innen, Student*innen, Auszubildenden und Wissensanwender*innen. Solange es diesen ohne Leistungen der Eingliederungshilfe nicht möglich ist, zu lernen, wird ihnen der Zugang verwehrt. Wir befürchten drastische und zahlreiche Fälle von Studien-, Schul- und Lernabbruch, die unbedingt verhindert werden müssen. Deshalb fordert der fzs alle, die in mind. einem der Teilbereiche nach §99 Abs. 2 SGB IX (neu) eingeschränkt sind, für die Eingliederungshilfe zu berechtigen.

2. Einschränkung des Rechts auf Bildung in § 112

Abs.1

Der § 112 umfasst die Leistungsunterstützung in der Bildung. Diese wird für (hoch-)schulische Angebote jedoch nur dann erteilt, „wenn zu erwarten ist, dass der Leistungsberechtigte das Teilhabeziel nach der Gesamtplanung erreicht.“ (§ 112, Abs. 1 Satz 2). Uns ist nicht ersichtlich, wieso es einer weiteren Einschränkung im Rahmen der Gesamtplanung bedarf. Das Vorliegen der üblichen Zugangsberechtigungen wie bspw. einer Hochschulzugangsberechtigung, muss ausreichen. Die Entscheidung über die Aufnahme eines Studiums darf nicht on den Erfolgserwartungen oder fiskalischen Interessen des Trägers der Eingliederungshilfe abhängen. In diesem Sinne plädiert der fzs dringend dafür, dem Recht auf Bildung und ebenso dem – ohnehin schon massiv eingeschränkten – in Art. 12 Abs. 1 GG für Alle verbürgten Recht auf freie Berufswahl und Berufsausübung, worunter auch das Studium fällt, Geltung zu verschaffen und diese Einschränkungen zu streichen.

Abs. 2

Die Einschränkungen der Gewährung von Unterstützung an ein fachlich-, zeitlich- und beruflich limitiertes Studium lehnt der fzs ab. Teilhabe würde bedeuten, keine an Effizienzlogiken ausgerichteten Maßstäbe anzulegen, sondern die Freiheit des Studiums zu garantieren. Entsprechend sollte jedes Studium unterstützenswert sein, unabhängig von arbiträren Erwartungen oder einer einmaligen fachlichen Festlegung. Auch sollte keine zeitliche Nähe vorgeschrieben sein – die Zeiten in denen Studium nur als Anschluss an Schule gedacht wurde, sind für Nichtbetroffene längst beendet, dies muss entsprechend für Alle gleichermaßen gelten.

Abs. 4

In diesem Absatz bestimmt der Entwurf, dass Teilhabeleistungen „gepoolt“, also gesammelt für viele Leistungsberechtigte erbracht werden können. Das verstößt gegen den Individualisierungsgrundsatz des Eingliederungshilfe. Damit wird die Ermöglichung eines individuellen Integrationshelfers von Behördenentscheidungen abhängig gemacht. Diesen eklatanten Eingriff in die individuelle Lebensgestaltung lehnen wir ab. Bei einer Änderung des Studienplans wie bspw. einem Veranstaltungswechsel im Studium steht zu befürchten, dass hoher bürokratischer Aufwand nötig ist um die Förderung zu erhalten, wenn sie Unterstützung bspw. in einer Veranstaltung nur für eine Gruppe von Leistungsberechtigten erteilt wurde.

3. Einschränkungen des Wunsch- und Wahlrechts

Der Kostenvorbehalt bei der Durchführung der Unterstützung nach § 104 Abs. 2 SGB IX (neu) ist abzulehnen. Es steht zu befürchten, dass nur vermeintlich vergleichbare Leistungen angeboten werden, anstatt jener Leistungen, die der*die Betroffene benötigt. Studierende sollten z.B. nicht auf unsichere und ungewohnte Onlinetools verwiesen werden, anstatt eine eigentlich nötige, aber kostenintensivere Vor-Ort-Betreuung zu erhalten.

4. Promotionen

Der vorliegende Entwurf sieht die Unterstützung während einer Promotion nur in begründeten Einzelfällen vor, zudem ausschließlich, wenn die Promotion „zum Erreichen [eines] angestrebten Berufsziels erforderlich“ ist. Menschen mit Behinderung werden hier erneut diskriminiert. Skandalös ist dabei nicht nur, dass in einigen Studiengängen die Promotion den „Regelabschluss“ darstellt, wovon Menschen mit Behinderungen auf diesem Wege systematisch ausgeschlossen werden, sondern auch, dass Nachwuchswissenschaftler*innen mit Behinderungen, die nach dem Studium an der Hochschule bleiben möchten, dadurch nahezu ausgeschlossen werden. Eine geisteswissenschaftliche Promotion wird Menschen mit Behinderungen somit nahezu vollständig, im Namen von „Employability“ und „gesellschaftlicher Teilhabe“, verunmöglicht, da sie systematisch eben nicht an eine spezifische Berufswahl gekoppelt ist.

Menschen mit Behinderung dürfen durch die vorgesehenen diskriminierenden Regelungen nicht die Berufsfreiheit im akademischen Bereich und die Möglichkeit zu freier wissenschaftlicher Betätigung genommen werden!

5. Praktika

§ 112 SGB IX (neu) regelt die Leistungsgewährung zur „Teilhabe an Bildung“. Darunter fallen bezügl. beruflicher Praktika nach Abs. 3 Nr. 2 ausschließlich solche, welche „für den Schul- oder Hochschulbesuch oder für die Berufszulassung erforderlich“ sind.

Menschen mit Behinderung wird also nur das absolute Minimum an Betreuungshilfen gewährt, welches angesichts der Möglichkeit des Hochschulzugangs nicht zu vermeiden war. Wirkliche Teilhabe sieht anders aus. Gerade in Zeiten, in welchen Berufszugänge häufig von einer Vielzahl unbezahlter Praktika während und nach dem Studium abhängen, wird auf diese Weise vielmehr das Gegenteil des Proklamierten erreicht. Trotz der Chance auf einen Hochschulabschluss bleiben Menschen mit Behinderungen so auf dem Arbeitsmarkt systematischer Diskriminierung gegenüber ihren nicht-behinderten Mitbewerber*innen ausgesetzt, welchen derartige Zusatzqualifikationen offenstehen. Daher muss für echte Teilhabe, auch und gerade auf dem Arbeitsmarkt, die Unterstützung von Menschen mit Behinderungen bei freiwilligen Praktika gewährleistet werden! In diesem Zusammenhang weist der fzs die Bundesregierung insbesondere auf Art. 27 UN-BRK hin, der die BRD verpflichtet, das gleiche Recht auf Arbeit von Menschen mit Behinderung anzuerkennen und geeignete Schritte zu unternehmen, Menschen mit Behinderung das Sammeln von Erfahrungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen.

6. Auslandsstudium und -aufenthalte

Zwar sieht der Entwurf vor, dass Studienaufenthalte im Ausland gefördert werden können, jedoch mit der Einschränkung, dass „diese verpflichtende[n] Bestandteile einer hochschulischen Aus- oder Weiterbildung für einen Beruf“ sein müssen. Damit sind bereits nahezu alle Studiengänge und somit auch alle auf Unterstützung angewiesenen Studierenden vom Auslandsstudium ausgeschlossen, da verpflichtende Auslandsteile in Studiengängen äußerst selten sind. Auch wenn diese vorgesehen sind, gibt es meist Alternativoptionen, so dass Studierende mit Behinderung gezwungen werden, auf diese auszuweichen.

Außerdem sieht § 31 SGB IX (neu) den Leistungsbezug im Ausland nur dann vor, wenn dieser bei gleicher Qualität kostengünstiger ist. Studienaufenthalte in einer Vielzahl von Ländern, deren Lohn- und Preisniveau höher und/oder deren Gesundheitssystem schlechter sind, werden somit völlig unmöglich. Somit könnten Auslandsaufenthalte in allen Städten, auf die eine der beiden Faktoren zutrifft, verunmöglicht werden und somit ein faktischer Ausschluss fast jeglicher Auslandsaufenthalte entstehen.

Damit werden in einer Vielzahl der Fälle Auslandsaufenthalte faktisch verhindert. Das ist nicht hinnehmbar, auch Menschen, die im Leben auf Behindernisse stoßen, muss die Möglichkeit im Ausland zu studieren und lernen ermöglicht werden.

7. Ehrenamtliches Engagement

Wenn Menschen mit Behinderung ehrenamtlich tätig sein wollen, dann wird dies in Sonntagsreden häufig mit warmen Worten gepriesen. „Mehr Anerkennung fürs Ehrenamt“ schreibt die Bundesregierung in ihrem Jahresbericht 12/13.

Die politische Realität sieht hingegen anders aus. So hat die Regierung hier bei Menschen mit Behinderung Sparpotenziale vordergründig im Blick. Diese sollen sich dafür nämlich zukünftig für u.U. nötige Unterstützungsleistungen zuerst einmal an Familie und Freund*innen wenden. Staatliche Unterstützung gibt es dann natürlich nicht, wenn diese bspw. beschäftigt, verreist o.ä. sind, sondern nur dann, wenn es für diese „nicht unentgeltlich zumutbar“ sei.

Die offene Verachtung für das gesellschaftliche Engagement von Menschen mit Behinderungen, welche zu Bittgängen gezwungen werden, sowie die Mitinhaftungnahme von Freund*innen und Familie ist völlig untragbar. Alle Menschen müssen sich engagieren können, ohne vor Freund*innen, Familie oder dem Staat um Unterstützung betteln zu müssen.

8. Die Ökonomisierung der Bildung von Menschen mit Behinderung

Grundsätzlich klingt in den Paragraphen des Entwurfs ein zutiefst ökonomisiertes Bildungsverständnis an. Anstatt „das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung […] ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen“, wie es die UN-BRK vorschreibt, wird Bildung hier nicht als Motor der beruflichen, privaten und gesellschaftlichen Inklusion verstanden, sondern vielmehr als reiner Ausbildungsweg, bei dem staatliche Hilfen nur im geringstmöglichen Ausmaß gewährt werden.

So werden einerseits nur im engsten Sinne für eine Berufsqualifizierung notwendige Leistungen gewährt, andererseits produziert der Gesetzentwurf allerdings auch genau dadurch wieder „Employability“-Nachteile für Menschen mit Behinderungen. Wenn keine Hilfen bei freiwilligen Praktika gewährt oder notwendige Hilfen für Auslandsaufenthalten aufgrund der höheren oder gleichen Kosten verweigert werden, schränkt dies nämlich nicht nur die Lebensgestaltungsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen massiv ein, sondern verschafft ihnen auch „Wettbewerbsnachteile“ auf dem Arbeitsmarkt. In diesem Sinne, so unser Schluss, schafft es der Gesetzesentwurf durch seine neoliberale Grundhaltung, die UN-BRK in ihr Gegenteil zu verkehren. Gesellschaftliche Teilhabe heißt nicht „Employability“ und Familie und Freund*innen in die Pflicht zu nehmen, da wo es eine gesellschaftliche Aufgabe ist und bleibt Gleichstellung herzustellen, macht Menschen mit Behinderungen nicht frei, sondern hält sie in Unmündigkeit und Abhängigkeit.

Fazit

Der fzs stellt sich, neben diesen spezifischen Punkten zur bildungspolitischen Seite des Teilhabegesetzes an die Seite von Betroffenen und ihren Vertretungen und unterstützt Kampagnen und Forderungen Betroffener zu einem Bundesteilhabegesetz, das diesen Namen wirklich verdient. Dabei dürfen nicht, wie es nur allzu oft deutlich wurde, die möglichen finanziellen Kosten für den Staat ausschlaggebend sein. Es muss vielmehr darum gehen ableistische Herrschaftsstrukturen abzuschaffen.

Der fzs ist sich jedoch darüber im Klaren, dass dies nicht mit einem Gesetz erreicht werden kann, so schlecht oder gut es auch sein mag, und wird deshalb weiterhin an einer Gesellschaft arbeiten, die Menschen nicht nach Nutzen und zugeschriebener Fähigkeit bewertet.