Manifest der 1435 Worte

„Für eine Flächenbahn – Gegen den Kurs auf’s Abstellgleis“

Die offizielle Verkehrspolitik spricht von einem „Vorrang Schiene“. Die 1994 gebildete Deutsche Bahn AG präsentiert sich als „Unternehmen Zukunft“.

Seit Frühjahr 1997 wissen wir: Das Gegenteil ist wahr. Vorrang in der realen Verkehrsentwicklung haben Straße und Luftverkehr. Die Deutsche Bahn AG verkümmert zum „Unternehmen Schrumpfbahn“. Mit der Bahnreform in der heutigen Form rollt der Schienenverkehr gegen den Prellbock. Die vor kurzem veröffentlichten bahn-internen Listen belegen:

  • Einem Viertel des Schienennetzes droht die Stillegung.
  • Der neue Bericht des Bundesrechnungshofs zur Deutschen Bahn AG besagt:
  • Die Bahn weist heute ein größeres Defizit aus als vor der Privatisierung.
  • Die Fahrgastzahlen stagnieren.

Schiene verliert von Jahr zu Jahr Marktanteile

Bereits aus den offiziellen Statistiken der Deutschen Bahn AG geht hervor, daß es im Schienengüterverkehr allein im Zeitraum 1990-1996 einen Rückgang von 40 Prozent gab. Am 31.5.1997 wurde der gesamte verbliebene Brieffrachtverkehr von der Schiene auf die Straße und in die Luft verlagert. Eine vergleichbare Entwicklung gibt es bei der Postfracht (Pakete, Päckchen). In Bälde wird auch der internationale „Bahn“-Stückgutverkehr ausschließlich auf der Straße abgewickelt.

Im Personenverkehr seien, so der Vorstandsvorsitzende der DB AG auf der Bilanzpressekonferenz Ende Februar 1997, in den drei Jahren der Existenz der Deutschen Bahn AG „16 Prozent mehr Fahrgäste befördert“ worden. Dies ist Schönfärberei. Im Schienen-Personennahverkehr sind, so der angeführte Bericht des Bundesrechnungshofes, die ausgewiesenen Fahrgastgewinne im wesentlichen „darauf zurückzuführen, daß die… Berliner … S-Bahn Anfang 1994 … der Transportleistung der DB AG zugerechnet wurde.“

Im Fernverkehr zeichnet sich sogar eine Verringerung der Verkehrsleistung ab. So schreibt der Rechnungshof: „Ohne… Ausweisänderung (in der Fahrgaststatistik) hätten sich die Erlöse aus dem Schienen-Personenfernverkehr trotz der Erhöhung der Kilometerpreise Anfang 1995 verringert.“

Angesichts eines weiter wachsenden gesamten Verkehrsmarktes – insbesondere im Luftverkehr, aber auch auf der Straße – sinkt damit der Anteil des Schienenverkehrs kontinuierlich. 1997 dürfte das erste Jahr sein, in dem die Verkehrsleistung im Binnenluftverkehr größer als diejenige im Schienenfernverkehr ist.

Streckenstillegungen

Bahn-Vorstand und Bundesverkehrsministerium haben auch für die Zukunft die Weichen auf’s Abstellgleis gestellt. Nach den bahninternen, detaillierten Listen sind insgesamt 11.646 Kilometer – fast ein Drittel des gesamten Schienennetzes – zur Prüfung für eine Stillegung eingestuft. In zwei der neuen Bundesländer sind rund zwei Drittel des derzeit bestehenden Netzes bedroht. Der Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Bahn AG, Günther Saßmannshausen, gab im März 1996 eine mittelfristige Netzplanung bekannt, wonach eine Halbierung der heutigen Streckenlänge von 40.000 auf rund 20.000 km vorgesehen ist. Die Formulierung im „Spiegel“ (12/1997), wonach ein „Schienen Schlachten“ bevorsteht, ist gerechtfertigt.

DB AG: Tiefrote Bilanz-Zahlen

Es heißt: Öffentliche Gelder seien knapp; im Gegensatz zur früheren „Beamtenbahn“ müsse sich die Deutsche Bahn AG „am Verkehrsmarkt behaupten“.

Auch diesen Aussagen widerspricht der Bundesrechnungshof. Dieser kritisiert, daß die von der DB AG behaupteten positiven Ergebnisse in den Bilanzen 1994 und 1995 lediglich durch veränderte Berechnungsgrundlagen zustandegekommen seien. Bei vergleichbaren Bewertungsgrundlagen weise das Betriebsergebnis der Deutschen Bahn AG in den Jahren 1994 und 1995 „eine deutliche Verschlechterung gegenüber dem letzten Jahr vor der Bahnreform“ auf. Gleichzeitig sei die DB AG „in den Geschäftsjahren 1994 und 1995 weit über ihren Bedarf hinaus mit Bundesmitteln ausgestattet worden“.

Bilanz

Damit ist vierfach negativ zu bilanzieren:

  • Die Schiene verliert Jahr für Jahr Marktanteile. Es gilt „Vorrang Straße und Luft“.
  • Im Güterverkehr verabschiedet sich die Bahn aus dem Massenmarkt und konzentriert sich auf eine Nischenpolitik – z.B. Bedienung einzelner Schnellverbindungen.
  • Die Bilanzen der Deutschen Bahn AG weisen noch größere Defizite als die der vorausgegangenen staatlichen Bundesbahn bzw. der Reichsbahn aus. Dies ist der Fall, obwohl die Bahn weitgehend entschuldet wurde. Gleichzeitig fließen mindestens so viele Steuermittel in den Schienenverkehr wie vor der „Bahnreform“.
  • Die Streckenstillegungspläne müssen zu einem beschleunigten Rückgang des Schienenverkehrs führen.

Was läuft falsch – was wäre richtig?

1. Rahmenbedingungen für die Verkehrswende

Die gesamten Rahmenbedingungen der Verkehrspolitik orientieren auf die Zunahme des Straßen- und Luftverkehrs: Gemessen in realen Preisen sind Kfz- und Luftverkehr so preiswert wie nie zuvor. Spezifische Maßnahmen begünstigen diese Entwicklung (Kilometerpauschale, Steuerfreiheit für Kerosin, Mineralölsteuerbelastung für die Bahn). Die staatlichen Investitionen in die Straße sind – Bundes- und Landesebene addiert – weiterhin wesentlich größer als diejenigen in die Schiene.

Dabei besteht heute selbst auf EU-Ebene Konsens: In einer volkswirtschaftlichen Rechnung kommen Luft- und Kfz-Verkehr wesentlich teurer als der Schienenverkehr (EU-„Grünbuch“).

Notwendig ist Kostenwahrheit: die Einbeziehung der „externen“ (nicht im Marktpreis berücksichtigten) Kosten des Straßen- und Luftverkehrs z.B. über eine Ökosteuer. Notwendig sind ein Stopp weiterer Straßenbauprogramme und die Konzentration der öffentlichen Investitionen auf den öffentlichen Verkehr, insbesondere den schienengebundenen.

2. Flächenbahn statt Geschwindigkeitswahn

Die gegenwärtige Schienenpolitik orientiert – im Güter- und Personenverkehr – auf einzelne Strecken anstatt auf ein flächendeckendes Schienennetz. Im Personenfernverkehr stehen die Hochgeschwindigkeitsstrecken im Mittelpunkt. Aus dieser Logik resultieren Streckenstillegungen. Sogenannte „Nebenstrecken“ kann nur der stillegen, der diese nicht als Zubringer sieht und dem die notwendige „Netzphilosophie“ fehlt.

Diese Politik ist grundfalsch. Auch heute finden 90 Prozent aller Schienenpersonenverkehre im Entfernungsbereich unter 50 Kilometer statt. Im Schienenfernverkehr (Fahrten über 50 km) liegt die durchschnittliche Reiseweite bei „nur“ 210 Kilometern. Selbst im Schienengüterverkehr liegt ein Drittel aller Transporte im Entfernungsbereich unter 50 Kilometer. Mit weiten und superschnellen Verbindungen wird auf eine kleine Klientel – Geschäftsreisende, Politiker, große Konzerne – und nicht auf die Mehrheit der Bevölkerung und die regionale Wirtschaft abgezielt.

Notwendig sind stattdessen der Erhalt und Ausbau eines flächendeckenden Schienennetzes, die optimale Abstimmung von Nah-, Regional- und Fernverkehren und somit eine ausreichend hohe „Netzgeschwindigkeit“.

3. Stopp dem weiteren Personalabbau

Allein zwischen 1990 (Bundesbahn und Reichsbahn) und Frühjahr 1997 (DB AG) erfolgte bei der Bahn eine Halbierung der Beschäftigtenzahlen. 1997 sollen weitere 24.000 Bahnarbeitsplätze verschwinden. Dieser Abbau geht längst an die Substanz: Er gefährdet die Sicherheit im Schienenverkehr und bewirkt das Gegenteil der erforderlichen Kundennähe.

Notwendig ist ein Stopp des Belegschaftsabbaus. Insbesondere beim Dienst an der Kundin und am Kunden – in Bahnhöfen, auf Bahnsteigen, in sicherheitsrelevanten Bereichen, in Zügen – muß ausreichend Personal vorhanden sein. Hier können Maschinen Menschen vielfach nicht ersetzen. Kein Flughafen und keine Fluglinie leistet es sich, während der Flugverkehrszeiten die Kundschaft mit Automaten zu „bedienen“.

4. Moratorium und Trassenschutz

Deutsche Bahn AG und Bundesverkehrsmimisterium versuchen, vollendete Tatsachen zu schaffen. Tausende Kilometer des Schienennetzes drohen abgebaut, Trassen verbaut und innerstädtische Bahnareale veräußert zu werden. Die Landesregierungen setzen dem keinen nennenswerten Widerstand entgegen.

Notwendig ist ein Stopp jeglicher weiterer Streckenstillegungen. Noch bestehende Trassen ohne Schienenverkehr sind für einen möglichen Ausbau der Flächenbahn vorzuhalten und dürfen nicht verkauft und verbaut werden.

5. Schieneninfrastruktur im Eigentum von Bund und Ländern

Ein grundlegender Webfehler der Bahnreform besteht darin, das Schienennetz als Teil einer ausschließlich betriebswirtschaftlich orientierten Aktiengesellschaft zu behandeln. Schienenstrecken sind – wie andere Verkehrswege – als infrastrukturelle Grundversorgung des Gemeinwesens zu verstehen. Sie dürfen nicht den Prinzipien des maximalen Gewinns, schon gar nicht denen der Bodenspekulation unterworfen sein.

Notwendig ist, das komplette Schienennetz aus der DB AG herauszulösen. Die Eigentümerschaft sollte bürgernah organisiert und demokratisiert werden. Sinnvoll erscheint eine Trägergesellschaft für das Schienennetz, in der Bund und Länder gleichberechtigt vertreten sind.

6. Trassenpreise, die den Nahverkehr fördern

Notwendig ist auch eine völlig andere Philosopie bei den Trassenpreisen. Während gegenwärtig die Trassenpreise der DB AG den Fernverkehr fördern und den Nahverkehr erdrosseln, müßte ein neuer Träger der Schieneninfrastruktur mit differenzierten Trassenpreisen den Nah- und Regionalverkehr fördern.

7. Die DB AG darf nicht über die Börse an Private gehen

Der heutige Verkehrsmarkt begünstigt den Kfz- und Luftverkehr. Allein die Tatsache, daß Straßenbau und Straßenunterhalt Angelegenheit von Bund, Ländern und Gemeinden sind, während das Schienennetz grundsätzlich Angelegenheit der Deutschen Bahn AG ist, unterstreicht die strukturelle Ungleichheit der Verkehrsträger. Der Verkehrsmarkt und die Volkswirtschaft werden heute überwiegend vom Kfz- und Luftverkehr und den damit verbundenen Unternehmen dominiert. Die „Bahnreform“ selbst ist in erheblichem Maß von den Interessen der Konkurrenz, der Autolobby, bestimmt. Unter anderem tragen die Deutsche Bank, Daimler-Benz, Thyssen und Mannesmann über wirtschaftliche und personelle Verflechtungen mit der DB AG dazu bei, daß Schienenverkehr auf Straßen und in die Luft verlagert wird. In dieser Autogesellschaft ist der Schienenverkehr einer Deutschen Bahn AG, deren Aktien frei an der Börse gehandelt werden, dem Untergang geweiht – wie dies in den USA mit dem Schienenpersonenverkehr bereits erfolgt ist. Notwendig ist, daß die Deutsche Bahn AG solange zu 100 Prozent im Eigentum des Bundes bleibt, wie die Rahmenbedingungen Straße und Luftverkehr begünstigen. Angesichts des fortgesetzten Einsatzes erheblicher staatlicher Mittel für den Schienenverkehr muß auch den Anforderungen des Bundesrechnungshofes entsprochen und u.a. eine „nach Sparten gegliederte, detaillierte Berichterstattung“ der Deutschen Bahn AG entwickelt werden, so daß Erfolg und Mißerfolg der verausgabten staatlichen Mittel beurteilt werden können.

Wir fordern die Parteien auf, im Sinne dieses „Manifestes der 1435 Worte“ aktiv zu werden und die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Politik der Verkehrswende zu schaffen!

Wir fordern die Bevölkerung, die Fahrgäste, die Gewerkschaften, die Verkehrsinitiativen, die Umwelt- und Fahrgastverbände auf, im Sinne dieses „Manifestes der 1435 Worte“ aktiv zu werden und durch eine breite Bewegung von unten die verhängnisvolle Fahrt der Bahn auf Abstellgleis und Prellbock zu verhindern.

  • ) Die in Britannien und dem größten Teil Europas gültige Schienen-„Normalspur“ hat 1435 mm Breite.

Beschlossen auf der 9.MV in Berlin, Januar 1998