Thesen zur aktuellen „Gleichstellungspolitik von oben“

1. Die aktuelle Gleichstellungspolitik an den Hochschulen beinhaltet fast ausschließlich familienpolitische Maßnahmen für Frauen in der Wissenschaft.

Der Abbau von Hindernissen, die einer Vereinbarkeit von Familie und Wissenschaft für Frauen im Weg stehen, ist noch lange keine umfassende Gleichstellungspolitik. Erstens wird dadurch die traditionelle Rollenverteilung nicht in Frage gestellt. Indem man Rahmenbedingungen schafft, Kindererziehung und wissenschaftliche Karriere zu vereinbaren, erreicht man noch nicht, dass sich auch Männer für Kindererziehung verantwortlich fühlen oder von Angeboten wie z.B. einer flexibleren Personalpolitik Gebrauch machen. Zweitens darf sich Gleichstellung, selbst wenn nur der rein familienpolitische Bereich betrachtet wird, nicht auf eine reine Folgenabmilderung beschränken, sondern muss Ursachen für ungleiche Chancen aufdecken und beseitigen.

Die hier geschilderte Tendenz der Fokussierung auf familienpolitische Rahmenbedingungen kam unter anderem auf der Jahrestagung der HRK im Mai 2003 „Frauen in der Wissenschaft“ zum Vorschein. Professor Dr. Klaus Landfried, Präsident der HRK, sagte beispielsweise in seiner Abschlussrede: „Ausbildung, wissenschaftliche Qualifizierung, Beruf und Kindererziehung in den Familien zu vereinbaren, das ist für viele Frauen nach wie vor das große Problem.“

2. Die Hauptintention der aktuellen Gleichstellungspolitik besteht darin, die „Begabungspotentiale“ von Frauen ökonomisch nutzbar zu machen.

Hinter Gleichstellungspolitik verbirgt sich im Kontext der allgemeinen Ausrichtung auf Verwertbarkeit verstärkt der Versuch eine ökonomische Nutzung der Begabungspotentiale von Frauen für die Wissenschaft zu erreichen. Damit ist die Gleichstellungspolitik häufig sehr leistungsorientiert und stellt eine Stärkung der Starken dar.

Die folgenden Zitate können diese Tendenz verdeutlichen:

„Chancengerechtigkeit ist die eine Seite der Medaille, ökonomische Vernunft die andere. Unser Land kann es sich nicht leisten, auf die Fähigkeiten, die Wissens- und Erfahrungsressourcen von Frauen zu verzichten. Mit ihrer sozialen und kommunikativen Kompetenz leisten sie gerade als Newcomerinnen im globalen System von Bildungs- und Wissenstransfer Beachtliches. Länder, die die Chancengerechtigkeit von Frauen in der Wissenschaft verwirklichen, werden international wettbewerbsfähiger sein.“ (Dagmar Schipanski, Vizepräsidentin der KMK, Wissenschaftsministerin in Thüringen, anlässlich der HRK Jahreskonferenz im Mai 2003 zum Thema „Frauen in der Wissenschaft“)

„Deutschland lebt von dem, was in den Köpfen der Menschen entsteht und zwar in denen von Männern und Frauen. Das weibliche Potenzial in Wissenschaft und Forschung unberücksichtigt zu lassen, bedeutet eine immense Ressourcenverschwendung. Eine solche Verschwendung von Begabungen und Fähigkeiten können wir uns nicht leisten!“ (Wissenschaftsministerin Edelgard Bulmahn)

3. Die aktuelle Gleichstellungspolitik ist somit meist keine emanzipatorische Politik. Sie tendiert dazu, bestehende Unterschiede zu verfestigen, anstatt sie aufzuheben.

In der aktuellen Gleichstellungspolitik werden Unterschiede, die auf Unterdrückungsmechanismen beruhen, teilweise bewusst kultiviert, um somit angeblich entstehende Synergiepotentiale zu nutzen. Ziel einer emanzipatorischen Politik ist es dagegen, strukturell bedingte Ungleichheiten und Unterdrückungsmechanismen aufzuzeigen und zu beseitigen. Sie beruht auf der Tatsache, dass Gleichstellungspolitik nur dann nachhaltig wirksam sein kann, wenn sie sich auf eine Analyse der Ursachen der Ungleichheiten stützt.

4. Die aktuelle Gleichstellungspolitik vernachlässigt die Unterschiede, die zwischen Frauen bestehen und übergeht daher gerade die Frauen, die stärker Diskriminierungen ausgesetzt sind.

Die Fördermaßnahmen der aktuellen Gleichstellungspolitik beziehen sich auf die typische Kategorie „Frau“. Sie blenden jegliche Differenzierung jenseits der weißen Mittelstandseuropäerin aus und benachteiligen damit beispielsweise Frauen aus den unteren sozialen Schichten und Frauen mit Migrationshintergrund. Gerade hier wären gleichstellungspolitische Instrumente aber besonders notwendig, um strukturell bedingte ungleiche Chancen auszugleichen. Eine Differenzierung ist notwendig, um die individuell verschiedenen Ursachen von Benachteiligung wirksam zu beseitigen.