Mit der europäischen Initiative wird von Seiten der Europäischen Kommission das Ziel verbunden, die Transparenz der Bildungssysteme in Europa zu erhöhen, Bildungsabschlüsse besser vergleichbar zu machen und so die Mobilität der Beschäftigten auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen. Die Diskussion um die Einführung nationaler Qualifikationsrahmen bezieht sich dabei ausdrücklich auf das gesamte Bildungssystem einschließlich der Beruflichen Bildung und des informellen Lernens. Eine zentrale Maßnahme zum Erreichen des Ziels der Transparenz der Bildungsabschlüsse in Europa wird in der Etablierung von Credit-Systemen gesehen. Die Europäische Kommission plant, bis zum Jahr 2006 ein European Credit Transfer System for Vocational Education and Training (ECVET) einzuführen, in das das bereits bestehende European Credit Transfer System (ECTS) integriert werden soll, das sich bislang ausschließlich auf den Bereich der Hochschulbildung bezieht. Zum ECVET soll ein neu gestalteter EUROPASS hinzutreten, in den auch das Diploma Supplement integriert werden soll.
Die Diskussion um die europaweite Einführung nationaler Qualifikationsrahmen ist im Kontext verschiedener Programme und Initiativen zu sehen, die maßgeblich von der Europäischen Union durchgeführt werden, an der aber auch Staaten beteiligt sind, die nicht Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind. Die wichtigsten dieser Initiativen sind der Lissabon-Prozess mit dem Ziel, die Europäischen Union mittelfristig zur wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Ökonomie weltweit zu machen, der Bologna- Prozess zur Harmonisierung der Hochschulbildung sowie dessen Äquivalent im Bereich der Berufsbildung, der Kopenhagen-Prozess. In den europäischen Strategien wird den Aspekten der Sicherung der regionalen und individuellen Wettbewerbsfähigkeit sowie der „Beschäftigungsfähigkeit (Employability)“ jedes einzelnen Menschen eine zentrale Bedeutung zugemessen, während soziale, kulturelle und emanzipatorische Aspekte nur eine untergeordnete Rolle spielen. Diese einseitige Fokussierung ist aus Sicht des fzs falsch. Zwar sind die Aus- und Weiterbildungsfunktion der Bildungseinrichtungen unbestreitbar wichtig für gesellschaftlichen Fortschritt, eine Reduzierung der Bildung auf diese Funktionen wäre aber fatal.
Ein Qualifikationsrahmen ist aus Sicht des fzs nur dann sinnvoll, wenn er über eine reine Beschreibung der unterschiedlichen Stufen formaler Bildung und deren Zertifizierung hinausgeht und sichergestellt ist, dass als gleichwertig anerkannte Qualifikationen auch gleich behandelt werden und mit den gleichen Rechten und Berechtigungen verbunden sind. Dies würde nicht nur eine transparente Darstellung des Bildungssystems bedeuten, sondern auch einen tatsächlichen Abbau von Hürden. Nur mit der Klarstellung der Gleichbehandlung gleichwertiger Qualifikationen kann ein Beitrag zur Erhöhung der Durchlässigkeit innerhalb und zwischen den nationalen Bildungssystemen geleistet werden. Vereinfachte Anerkennungsregelungen sind insbesondere im Hochschulbereich notwendig, um die mit einem Qualifikationsrahmen verfolgten Ziele zu erreichen.
Die Diskussionen um Qualifikationsrahmen sind aus studentischer Sicht sowohl in Deutschland als auch auf europäischer Ebene ambivalent. Zwar sind die formulierten Ziele der Erhöhung der Transparenz der Bildungssysteme und der Ermöglichung individueller Lernwege durch die Einbeziehung informellen Lernens zu begrüßen, sie finden sich aber in den bisher verabschiedeten Qualifikationsrahmen nicht wieder. Im Gegenteil: Der Hochschulbereich wurde aus den Diskussionen herausgelöst. Damit wird die Einbeziehung der Übergänge in das Hochschulsystem in einen umfassenden Qualifikationsrahmen von vornherein erschwert. Die bisher beteiligten AkteurInnen, wie die RektorInnenvertretungen, haben kaum ein Interesse, die Durchlässigkeit des Bildungssystems signifikant zu erhöhen und breite Möglichkeiten des Übergangs zwischen den Bildungsinstitutionen zu schaffen; häufig vertreten sie nur die Interessen einer kleinen Gruppe oder sie propagieren eine offensive Abschottungspolitik, gerade was in der BRD den Übergang zwischen den einzelnen Schulformen oder auch vom Bachelor zum Master angeht. So ist in der BRD maßgeblich die Hochschulrektorenkonferenz mit der Umsetzung eines nationalen Qualifikationsrahmens für den Bereich der hochschulischen Bildung beauftragt worden, während die Diskussion über die Europäisierung der Berufsbildung vor allem vom Bundesinstitut für Berufsbildung vorangetrieben wird und die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung Modellversuche zur Kreditierung informellen Lernens durchführt. Diese Isolierung der Diskussionsstränge führte dazu, dass nicht nur die Gesamtperspektive verloren ging, sondern auch diejenigen AkteurInnen weiterhin die (Teil-)Diskussionen dominieren, die auch in der Vergangenheit verhindert haben, dass ein integriertes Gesamtkonzept lebenslangen Lernens in Deutschland entwickelt werden konnte.
Aus unserer Sicht müssen sich sowohl ein nationaler als auch ein europäischer Qualifikationsrahmen daran messen lassen, was sie zur Erhöhung der Durchlässigkeit innerhalb und zwischen den Bildungssystemen und somit zur Förderung individueller Bildungsverläufe beitragen. Die Definition eines Qualifikationsrahmens muss deshalb das Ergebnis einer breiten gesellschaftlichen Diskussion sein. Er darf nicht nur von wenigen politischen AkteurInnen produziert werden, die die Diskussionen und Entwicklungen in den einzelnen (Teil-)Bereichen des Bildungssystems kontrollieren. Neben den VertreterInnen von SchülerInnen, Auszubildenden und StudentInnen sind gerade auch Gewerkschaften und ArbeitgeberInnenverbände gleichberechtigt an diesen Diskussionen zu beteiligen. Die bisherigen Diskussionen erfüllen diese Ansprüche nicht. Die Teil-Qualifikationsrahmen für das Hochschulsystem zementieren sogar noch die Hürden zwischen den Bereichen des Bildungssystems, indem die Lernziele oder Qualifikationen der einzelnen Stufen so unkonret beschrieben werden, dass sie unüberprüfbar sind und so weiterhin die Interpretationsmacht der im jeweiligen Teilbereich des Bildungssystems dominanten AkteurInnen entscheidend ist. Die im Qualifikationsrahmen weiterhin vorgesehenen impliziten Hürden zwischen den unterschiedlichen Bildungsinstitutionen können so kaum explizit kritisiert werden, da Kritik sehr einfach als reines Missverständnis abgetan werden kann. Dies gilt in besonderer Weise für die so genannten Dublin Descriptors der Joint Quality Initiative, die das Fundament sowohl des europäischen als auch des deutschen Qualifikationsrahmens bilden. Dies ist umso mehr zu kritisieren, als sie bereits auf mehreren Fachtagungen im Vorfeld massiv kritisiert wurden. In Folge dieser unkonkreten Qualifikationsbeschreibungen werden strukturelle Undurchlässigkeiten dann nicht mehr als Ergebnisse der falschen Organisation des Bildungswesens betrachtet, sondern als Ausdruck von individuellen „Fähigkeitsunterschieden“ legitimiert.
Vor diesem Hintergrund fordert der fzs die relevanten Institutionen auf, einen breit angelegten Diskussionsprozess unter Einbeziehung aller betroffenen gesellschaftlichen Gruppen zu initiieren, der die verschiedenen Teildiskussionen zusammenführt, und so einen nationalen Qualifikationsrahmen zu entwickeln, der den formulierten Zielen der Erhöhung der Transparenz der Bildungssysteme und der Ermöglichung individueller Lernwege durch eine Verbesserung der Durchlässigkeit der Bildungssysteme und die Einbeziehung informellen Lernens gerecht wird. Um zu einer gleichberechtigten Diskussion zu kommen, muss der bereits verabschiedete Qualifikationsrahmen zum Hochschulbereich erneut zur Disposition gestellt werden.
Ein Qualifikationsrahmen könnte einen Beitrag zu einem durchlässigeren Bildungssystem leisten. De facto aber stehen konkrete Verbesserungen von Anerkennungsregelungen zur Zeit weit unten auf der Tagesordnung – wie zum Beispiel die schleppende Umsetzung der Lissabonner Anerkennungskonvention zeigt. Im Gegensatz hierzu erfolgt der Aufbau neuer Hürden im Bildungssystem mit hohem politischem Nachdruck, wie an der Verschärfung der Zulassungsordnungen bei den neuen Bachelor- und Masterstudiengängen deutlich wird. Eine Abkehr von dieser Politik ist aber eine notwendige Voraussetzung für einen Qualifikationsrahmen, der tatsächlich ein umfassendes, durchlässiges System für individuelle Wege lebenslangen Lernens voranbringt.
Beschlossen auf der 28. MV in Köln, August 2005