Barrieren abbauen

Dazu müssen gewisse Rahmenbedingungen geschaffen werden, die es ermöglichen, eine Berufswahl ohne weitere Barrieren zu treffen. Um Behinderten oder chronisch Kranken überhaupt einen Zugang zum ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen, ist es notwendig, als Kompensation anderweitiger Benachteiligungen den Erwerb einer möglichst hohen Qualifikation zu gewährleisten. Dennoch wird für die Betroffenen die Aufnahme eines Studiums sowie dessen weiterer Verlauf durch vielfältige Barrieren verhindert oder erschwert. Diese Situation hat sich mit der Einführung gestufter Studiengänge verschärft. Die Eingliederungshilfe als Grundvoraussetzung für einen gesicherten Studienverlauf Behinderter oder chronisch Kranker steht bereits zur Disposition: Es ist zu befürchten, dass diese Unterstützung für behinderte oder chronisch kranke StudentInnen in Zukunft nur noch für die Bachelor-Phase zur Verfügung steht.

Bisher wurden weder bei der Studienstrukturreform noch bei Maßnahmen zur Mobilitätsförderung die besonderen Bedürfnisse von behinderten oder chronisch kranken StudentInnen auf allen Ebenen angemessen berücksichtigt. Der fzs fordert alle beteiligten AkteurInnen deshalb dazu auf, deren Belange bei der Umsetzung des Bologna-Prozesses besonders zu beachten.

1. Vorbereitung auf das Studium

Bei der Gruppe der behinderten und chronisch kranken StudentInnen wirkt sich die Selektivität des dreigliedrigen Schulsystem deutlich verstärkt aus. Die Bildungsmöglichkeiten im Sekundarstufenbereich beschränken sich für diesen Personenkreis zumeist auf den Besuch von Sonder- bzw. Hauptschulen. Der fzs fordert die Länder auf, endlich die vorherrschende Trennung in den Bildungsgängen, gerade unter dem Blickpunkt der integrativen Schule, aufzugeben und die Umstellung durch eine entsprechende finanzielle Unterstützung zu gewährleisten.

Kurz- und mittelfristig haben die Länder sicherzustellen, dass das Lehr- und Beratungspersonal an Haupt- und Sonderschulen in die Lage versetzt wird, die SchülerInnen über die Möglichkeit eines Studiums besser aufzuklären und sie in einem eventuell bestehenden Studienwunsch engagiert zu unterstützen.

In diesem Zusammenhang muss auch die Beratungspraxis der Arbeitsagenturen kritisch beleuchtet werden. Die Kooperation mit den Betroffenen ist im Moment unzureichend. In der Beratungspraxis wird über die vorhandenen Alternativen zu Werkstätten und Berufsbildungswerken nur rudimentär aufgeklärt, so dass die Betroffenen von dieser Seite aus keine qualitativ guten Informationen über ein Hochschulstudium erhalten.

Ohne die eingeforderten Maßnahmen ist aus Sicht des fzs der gleichberechtigte Zugang zum ersten Arbeitsmarkt für Behinderte oder chronisch Kranke nur sehr eingeschränkt möglich.

2. Barrieren und Nachteilsausgleiche

Die Länder müssen durch entsprechende Gesetzesänderungen sicher stellen, dass Benachteiligungen von behinderten oder chronisch kranken StudentInnen bei der Umstellung auf neue Studiengänge und -strukturen vermieden werden. Hierzu müssen zunächst Strukturvorgaben der KMK konkretisiert werden: eine Akkreditierung von Studiengängen darf nur dann erfolgen, wenn Nachteilsausgleiche für behinderte oder chronisch kranke StudentInnen nach individuellem Bedarf vorgesehen sind.

2.1 Studienaufnahme

Dies muss bereits bei der Aufnahme zum Studium berücksichtigt werden. Die verstärkte Einführung von Auswahlsatzungen führt zur mittelbaren und unmittelbaren Benachteiligung von behinderten oder chronisch kranken StudienbewerberInnen. Ein Beispiel von mittelbarer Benachteiligung wäre die Forderung nach dem Ableisten von Vorpraktika, unmittelbare Benachteiligung besteht im Fehlen von Nachteilsausgleichen im Auswahlverfahren. Dazu würde auch eine von den Hochschulen gestellte Assistenz (Schreibhilfen, GebärdendolmetscherInnen) im Auswahlgespräch zählen.

Der fzs lehnt daher solche Auswahlverfahren ab und fordert zumindest eine Rückkehr zur bisherigen ZVS-Praxis. Bislang haben sich die Kriterien Abiturnote, Wartezeit und Ortspräferenz als weniger selektiv erwiesen als es die neuen Auswahlverfahren intendieren. Davon unberührt bleibt die ablehnende Haltung des fzs Zulassungsbeschränkungen gegenüber generell.

2.2 Studienverlauf

Nachteilsausgleiche müssen die folgenden Kriterien erfüllen: Es muss generell die Möglichkeit gewährleistet werden, dass eine Prüfungsleistung bedarfsgerecht in anderer Weise erbracht werden kann. Dazu gehört insbesondere ein Wandel von schriftlicher zu mündlicher Prüfung – oder umgekehrt. Darüber hinaus erscheint es notwendig, in den Prüfungen StudienassistentInnen wie Schreibhilfen oder GebärdendolmetscherInnen ohne Einschränkungen zuzulassen. Die Prüfungszeit muss in diesen Fällen verlängert werden können. Generell ist die Art des Nachteilsausgleichs an die Spezifik der Krankheit oder Behinderung anzupassen. Von übermäßigen oder bei chronischen Erkrankungen häufig wiederholten Verpflichtungen zur Vorlage von attesten ist dabei abzusehen. Diese Verpflichtungen stellen zusätzliche Belastungen auch in finanzieller und gesundheitlicher Hinsicht dar und sind häufig Ausdruck unterstellten Leistungsunwillens.

Sowohl für Prüfungen als auch für Praktika oder Exkursionen muss die Möglichkeit eingeräumt werden, die geforderten Leistungsnachweise in anderer Form oder anderen Zeiträumen bedarfsgerecht zu erbringen. Dies beinhaltet auch, dass von der üblichen Form der Präsenzleistung verstärkt Abstand genommen werden kann, so z.B. durch den Einsatz elektronischer Hilfsmittel an für den Kranken oder Behinderten angepassten Orten.

2.3 Übergang zum Master

Beim Übergang vom Bachelor zum Master sind weitere Barrieren auszumachen. In der einen oder anderen Weise versuchen die Hochschulen, den Zugang zu Masterprogrammen zu limitieren. Eine Vorentscheidung ist durch die Definition des Bachelors als Regelabschluss getroffen worden.

Damit verbunden kommt es häufig zu Zulassungsverfahren, die eine spezialisierte Eignung der StudentInnen feststellen sollen. Als zentrales Kriterium wird in der Regel die Gesamtnote des Bachelorabschlusses herangezogen. Allerdings ist zu befürchten, dass sich auch viele FachvertreterInnen dafür entscheiden, andere Kriterien wie berufliche Erfahrung, (freiwillige) Praktika, Sprachkurse oder Auslandsaufenthalte für die Zulassungsentscheidung hinzu zu ziehen. Solche Forderungen stellen erhebliche, mittelbare Hürden für die Gruppe der Behinderten oder chronisch Kranken dar; sie sind daher strikt abzulehnen. Die Gründe hierfür sind insbesondere, dass es StudentInnen mit Behinderung oder chronischer Krankheit oftmals an Mobilität, Zeitbudget oder Finanzierung mangelt.

3. Finanzielle Absicherung des Studienverlaufs

Als entscheidende Hürde in Bezug auf eine Studienaufnahme und einen erfolgreichen Studienabschluss erweist sich immer wieder eine ungesicherte Studienfinanzierung. Im Fall von behinderten oder chronisch kranken StudentInnen sind in dieser Hinsicht zwei verschiedenen Förderungen zu unterscheiden, die dringend im Zuge der Einführung gestufter Studiengänge an den individuellen Bedarf der StudentInnen angepasst werden müssen:

3.1 Eingliederungshilfe

Zur Zeit wird die Eingliederungshilfe nach SGB XII zur Deckung des behindertenbedingten Mehrbedarfes in der Regel nur bis zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss gewährt. StudentInnen, die eine Berufsausbildung absolviert haben, haben heute schon das Problem, dass sie keine Förderung für ein Studium erhalten, da die überörtlichen Träger der Sozialhilfe die Rechtsauffassung vertreten, dass sie hinreichend in den Beruf eingegliedert seien. Diese Situation droht sich bei der Umstellung auf neue Studienstrukturen noch zu verschärfen, da der Bachelor-Abschluss zum berufsqualifizierenden Regelabschluss erklärt wurde. In diesem Sinne wäre ein Masterstudiengang, insbesondere wenn er nicht konsekutiv ist – sprich sich nicht unmittelbar an den Bachelor-Abschluss anschließt, nicht förderungsfähig im Sinne der Eingliederungshilfe. Auch die Möglichkeiten von Aufbaustudiengängen, von Promotion und Habilitation werden nicht durch die Eingliederungshilfe gedeckt, was in der Sicht des fzs einen schweren Missstand bedeutet.

Daher fordert der fzs, durch eine entsprechende Änderung des SGB XII sicherzustellen, dass StudentInnen mit Behinderung oder chronischer Krankheit alle akademischen Grade (im Fall von Bachelor und Master auch unabhängig von der Konsekutivität der Studiengänge) anstreben können, selbst wenn sie zuvor eine Berufsausbildung absolviert haben.

Falls in den Prüfungsordnungen der einzelnen Hochschulen nicht sichergestellt werden kann, dass StudentInnen mit Behinderung oder chronischer Krankheit Anspruch auf Eingliederungshilfe im Ausland haben (z.B. in Fällen, in denen ein Auslandsaufenthalt kein verpflichtender Bestandteil eines Studiums ist), ist im Rahmen einer Änderung des SGB XII vorzusehen, dass Eingliederungshilfe für Studienaufenthalte oder Praktika im Ausland in jedem Fall gewährt werden.

3.2 Ausbildungsförderung

Ähnliche Probleme wie bei der Eingliederungshilfe bestehen auch beim BAföG. Bei einer vorherigen Berufsausbildung ist die anschließende staatliche Förderung nicht sichergestellt. Der fzs besteht auf der Forderung nach einer Erhöhung der beruflichen Qualifikation für behinderte oder chronisch kranke StudentInnen und fordert den Bund insbesondere auf, den Bezug des BAföGs nicht an den Bachelorabschluss zu koppeln, sondern die Förderung unabhängig von der Konsekutivität des Masterstudiengangs auch in dieser Phase zu gewähren.

Auch bei einer Studienzeitverlängerung durch die Folgen einer Behinderung oder chronischen Krankheit, muss die finanzielle Unterstützung durch das BAföG weiter gegeben sein.

Der fzs fordert daher, das BAföG dahingehend zu ändern, dass Ausbildungsförderung für behinderte oder chronisch kranke StudentInnen dem persönlichen Bedarf entsprechend länger gewährt wird.

Beschlossen auf der 28. MV in Karlsruhe, August 2005