Der freie zusammenschluss von student*innenschaften stellt mit großem Bedauern fest, dass in NRW die Anwesenheitspflicht wieder eingeführt werden soll und es auch in mehreren anderen Bundesländern verstärkte Bestrebungen gibt, die Anwesenheitspflicht in den Fokus politischer Debatten zu rücken.
Des weiteren sieht es der fzs kritisch, dass physische Anwesenheit in direktem Zusammenhang mit dem Lernerfolg und Kompetenzerwerb von Student*innen gesehen wird, da dieser vor allem durch didaktisch anspruchsvoll und ansprechend gestaltete Veranstaltungen und mit Angeboten zur Vor- und Nachbereitung erzielt wird. Gut aufbereitete Veranstaltungen werden von Student*innen gerne besucht, ohne dass eine Anwesenheitspflicht besteht.
Das Studium hat aus unserer Sicht das in einigen Landeshochschulgesetzen verankerte Ziel, Student*innen zu kritischen und selbstständigen Persönlichkeiten auszubilden. Dieses Ziel wird insbesondere durch Freiheiten im Studium erreicht. Dazu gehört die Freiheit, selbstständig entscheiden zu können, ob man an einer Lehrveranstaltung teilnehmen möchte oder ob die Kompetenzen anderweitig erworben werden können. Auch vor dem Hintergrund, dass die Anerkennung von Studienleistungen aus dem Studium an einer anderen Hochschule oder aus Kompetenzen, die außerhalb des Studiums erworben wurden, erfolgen muss, muss es Student*innen möglich sein, die Inhalte der Lehrveranstaltungen selbstständig zu erarbeiten. Hochschulen und Politik müssen sich dessen bewusst sein und akzeptieren, dass Student*innen selbstbestimmte Menschen sind, denen man die Freiheit lassen sollte, auch mal in einer Prüfung zu scheitern.
Bei Veranstaltungen, wie Praktika oder praktischen Versuchsanordnungen entsteht die Anwesenheitspflicht aus sich selbst heraus. Dabei ist klar, dass der Kompetenzerwerb und die Vergabe von Creditpoints nur bei Anwesenheit erfolgt. Es besteht keine Notwendigkeit, für diese Veranstaltungen eine Anwesenheitspflicht zu fordern. Dies macht eine gesetzliche Regulierung unnötig.
Die Anwesenheitspflicht benachteiligt vor allem jene Student*innen, die arbeiten müssen, um ihr Studium finanzieren zu können, die Kinder haben oder Angehörige pflegen müssen oder eine Beeinträchtigung haben. Hier ist besonders zu berücksichtigen, dass auch kurzfristige Fälle eintreten können, die Flexibilität seitens der Student*innen erfordern und im Gegensatz zur Anwesenheitspflicht stehen. In der Gestaltung der Studiengänge, der Prüfungs- und Studienordnung sowie der Gesetzgebung muss die Diversität der Student*innen mit in den Prozess einbezogen und beachtet werden.
Alle Student*innen sind eigenständige Personen mit eigenen Interessen und einem eigenen Lernstil. Die Digitalisierung bietet den Hochschulen zahlreiche Möglichkeiten, die Lehre interessanter zu gestalten, sie für Studis attraktiver zu machen und Optionen zu bieten, nicht physisch in der Veranstaltung anwesend sein zu müssen. Um die Attraktivität von Lehre zu steigern, könnten beispielsweise Live-Feedback, software-basierte Erhebungen unter den Teilnehmer*innen während einer Veranstaltung, oder andere Formen der direkten Rückmeldung für eine niedrigschwellige Beteiligung an der Gestaltung der Lehrinhalte genutzt werden, ebenso wie für eine interessantere, teilnehmer*innenbezogene Aufbereitung der Themen. Für eine Vermeidung der Notwendigkeit von ständiger physischer Anwesenheit sowie für eine Ermöglichung individuellerer Lernorte, stehen digitale Optionen wie Flipped Classroom, aufgezeichnete und sinnvoll aufbereitete Veranstaltungen, oder Blended Learning zur Verfügung. Weiterhin sollten die Hochschulen sich auch verstärkt mit Lehrformen befassen, die Präsenzlehre punktuell ersetzen können, um auch Student*innen mit zeitlichen Verpflichtungen zu entlasten. Die inhaltlichen und technischen Methoden aus Onlinekursen (MOOC) können hier beispielgebend sein. Diese Freiräume sollten die Hochschulen ausnutzen, um der Vielfalt der Lebensumstände Rechnung zu tragen, statt dem veralteten Konzept der Anwesenheitspflicht nachzuhängen.
Die Persönlichkeitsbildung, die nicht nur in den Lehrveranstaltungen sondern insbesondere im Engagement im studentischen Ehrenamt stattfindet, wird durch die Anwesenheitspflicht deutlich erschwert. Gremiensitzungen der Hochschulen und der Student*innenschaften finden häufig tagsüber zu Vorlesungszeiten statt. Student*innen, die zu diesem Zeitpunkt eine Veranstaltung mit Anwesenheitspflicht haben, wird die Teilnahme an diesen Sitzungen und die Mitgestaltung an der Hochschule somit verwehrt. Die Hochschulen sollten im Sinne der Demokratie ein intrinsisches Interesse daran haben, dass ihre Student*innen sich aktiv an der Gestaltung der Hochschule beteiligen können. Das ehrenamtliche Engagement der Student*innen muss geschützt und gestärkt werden. Diesem Ansatz steht die Anwesenheitspflicht diametral gegenüber. Doch nicht nur ehrenamtliches Engagement wird durch Anwesenheitspflichten deutlich erschwert. Auch werden derartige Einschränkungen der Studierfreiheit nicht den vielfältigen Lebensrealitäten von Student*innen gerecht. Zahlreiche Student*innen nehmen Betreuungs- oder Pflegeaufgaben für Angehörige wahr. Diese sollten nicht auf die Inanspruchnahme von Härtefallregelungen zurückgreifen müssen und damit einem Rechtfertigungs- und Antragsstellungsdruck ausgesetzt sein.
Daher lehnt der fzs die Anwesenheitspflicht ab. Der fzs fordert die Landesregierungen auf, die Anwesenheitspflicht nicht über gesetzliche Regelungen oder fehlende Verbote zu ermöglichen. Bestehende Formulierungen in Landeshochschulgesetzen sind derart zu ändern, dass Anwesenheitspflichten im Sinne des Antrags untersagt werden.