Einleitung
Knapp ein Jahr nach dem ersten Lockdown stehen Hochschulen und Hochschulangehörige weiterhin vor der schwierigen Frage, wie unter Pandemiebedingungen angemessene Prüfungen realisiert werden können. Vor dem Hintergrund des aktuellen Infektionsgeschehens und den Versäumnissen der Länder und Hochschulen, in diesem Bereich auch mittelfristig tragbare Konzepte zu entwickeln, erscheint die Situation im laufenden Wintersemester sogar verschärft. Während einige Hochschulen auf Biegen und Brechen Präsenzprüfungen abhalten, setzen andere Einrichtungen rechtswidrige Überwachungstools bei Online-Prüfungen ein. Fehlende Planbarkeit sowie unklare Rahmenbedingungen für absolvierte und anstehende Prüfungen sind an der Tagesordnung. Der freie zusammenschluss von student*innenschaften e. V. (fzs) und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) setzen sich gemeinsam für einen solidarischen Umgang mit den bestehenden Herausforderungen ein. Die besondere Krisensituation darf nicht auf dem Rücken von Studierenden und Beschäftigten ausgetragen werden!
Aufs Glatteis geführt: zur laufenden Prüfungsphase im Wintersemester
Wir fordern die Länder und Hochschulen auf, dem dringenden Handlungsbedarf nachzukommen. Angemessene Prüfungsbedingungen zu schaffen bedeutet, bereits in der Prüfungsphase des laufenden Wintersemesters 2020/21 folgende Grundsätze zu berücksichtigen:
- Präsenzprüfungen nur in unabdingbaren Ausnahmesituationen: andere (Take Home-)Prüfungsformen priorisieren, Gesundheitsschutz sicherstellen!
- Kein Proctoring: Datenschutz und Persönlichkeitsrechte der Studierenden wahren!
- Infrastruktur bieten: Endgeräte und Arbeitsplätze für angemessene Prüfungsbedingungen zur Verfügung stellen!
- Nachteilsausgleiche ausschöpfen: Abgabefristen verlängern, alternative Prüfungstermine sicherstellen, Nachteile bei elektronischer Prüfungsdurchführung ausgleichen!
- Freiversuchsregelungen ausbauen: für einen kollektiven, pandemiebedingten Nachteilsausgleich!
- Mehraufwand reduzieren: Umfang der Prüfungsleistungen und der anfallenden Korrekturen nicht auf Kosten der Studierenden und Dozierenden erhöhen!
- Zusatzbelastungen Rechnung tragen: Prüfungsvor- und -nachbereitung angemessen auf die Lehrkapazität anrechnen!
- Für ein solidarisches Miteinander: Kulanz walten lassen, gemeinsam stark sein!
Unter den derzeitigen Pandemiebedingungen lehnen fzs und GEW Präsenzprüfungen grundsätzlich als unverantwortlich ab. Prüfungen sollten in alternativen Formaten stattfinden, soweit nicht auf sie verzichtet werden kann. Für praktische Prüfungen, die eine Präsenz dringend verlangen (beispielsweise in Bereichen der Medizin, Sport, Kunst und Musik, Land- und Forstwirtschaft und Labortätigkeiten), müssen kleine Gruppengrößen gewährleistet, sichere Hygienekonzepte für alle Beteiligten entwickelt sowie die notwendigen Ressourcen und entsprechende Infrastruktur von der Hochschule bereitgestellt werden. Für nicht-praktische Prüfungen sind hochschuldidaktisch sinnvolle und im Umfang gleichrangige Alternativen zu wählen.
Der Einsatz von Proctoringmethoden zur Überwachung von Online-Prüfungen, beispielsweise mittels 360-Grad-Kameraschwenk durch den Raum der zu prüfenden Person, Eye- Tracking, Übertragung der Bildschirmanzeige und der geöffneten Programme und vieles mehr verletzen datenschutzrechtliche Vorgaben bzw. die Persönlichkeitsrechte der Studierenden. Auch Lehrende begeben sich hier als Prüferinnen und Prüfer in unzumutbare Situationen; die didaktische Sinnhaftigkeit von Prüfungen, die derartige Überwachungsmechanismen erfordern, ist ebenso in Zweifel zu ziehen wie die Verhältnismäßigkeit derselben. Regelungen, welche die „freiwillige“ Einwilligung der zu prüfenden Person zum Proctoring voraussetzen (beispielsweise nach neuer Rechtslage in Baden-Württemberg), ignorieren zudem bestehende Hierarchien und Abhängigkeiten zwischen Studierenden und Prüferin oder Prüfer. Daher ist Proctoring grundsätzlich abzulehnen. Wir regen an, alternative Prüfungsformen, bei denen kein Proctoring nötig ist, zu wählen. Der Grundsatz sollte lauten: Wenn Proctoring gebraucht wird, sollte die Prüfungsform überdacht werden.
Digitale Prüfungsformen erfordern eine leistungsfähige technische Ausstattung und eine Internetverbindung, die nicht überall gegeben und für alle zugänglich sind. Sofern die Prüfungsformate nicht analog realisierbar sind, ist es die Pflicht der Hochschulen, Arbeitsplätze und Endgeräte für einen reibungslosen Prüfungsverlauf zur Verfügung zu stellen.
Alle Studien- und Prüfungsordnungen enthalten Nachteilsausgleichsregelungen für Studierende mit Beeinträchtigungen sowie mit Erziehungs- und Pflegeverpflichtungen. Sich aus diesen Regelungen ergebende Handlungsspielräume sind auszuschöpfen, da nur so der durch wegfallende Assistenz- und Betreuungsangebote gestiegenen Zusatzbelastung begegnet werden kann. Mit alternativen Prüfungsterminen und vor allem verlängerten Abgabefristen wird zudem dem Umstand Rechnung getragen, dass Bibliotheken und Archive gar nicht oder nur eingeschränkt geöffnet haben. Das stellt vor allem sowohl diejenigen Studierenden in der Studieneingangsphase, die sich ohnehin neu in die Formen wissenschaftlichen Arbeitens und Recherchierens einüben müssen, als auch diejenigen in der Studienabschlussphase mit eigenen, größeren Forschungsarbeiten vor spezifische Herausforderungen. Insbesondere für die pandemiebedingt gestiegene Zahl der Studierenden, die zum Studienort pendeln müssen, stellt dies eine weitere Schwierigkeit dar.
Die Pandemie trifft alle. Über die formalen, technischen und organisatorischen Hürden hinaus sind die Pandemie an sich, der damit zusammenhängende Lockdown und verstärkte ökonomische Unsicherheit Gründe für eine massive Belastung. Auf diese kann nur mit einer angemessenen Freiversuchsregelung im Sinne eines kollektiven Nachteilsausgleichs reagiert werden.
Der Aufwand digitaler Lehre und Prüfungen wird vielfach unterschätzt, die Studierenden werden damit überfrachtet. Eine Änderung der Prüfungsform darf nicht zu einem signifikanten Anstieg des geforderten Leistungsniveaus oder des Arbeitsaufwandes führen. Gleichzeitig darf auch der anfallende Korrekturaufwand nicht übermäßig erhöht werden, indem beispielsweise alle mündlichen Prüfungen in schriftliche umgewandelt werden. Hier gilt es, äquivalente Formen zu finden und Mehraufwand zu reduzieren.
Die Umstellung auf digitale oder hybride Lehre, die intensive Vor- und Nachbereitung digitaler und alternativer Prüfungsformate sowie die Einrichtung notwendiger Ersatztermine bringen eine enorme Zusatzbelastung für Dozierenden mit sich. Fehlende Planbarkeit und unklare Perspektiven verschärfen insbesondere bei Lehrbeauftragten, befristet Beschäftigten oder Dozierenden mit hohem Lehrdeputat die ohnehin prekäre Situation. Das Ausmaß dieser Tätigkeiten ist entsprechend auf ihre Lehrkapazität anzurechnen und zu vergüten. Länder und Hochschulen müssen durch transparente Kommunikation, die Bereitstellung von passender Infrastruktur, Angebote hochschuldidaktischer Fortbildungen innerhalb der Arbeitszeit sowie durch angemessene Anrechnungsschlüssel und Entlastungsmodelle Lehrende darin unterstützen, sichere und sinnvolle Prüfungssituationen für alle Beteiligten herstellen zu können.
Um die vielfältigen Herausforderungen und Problemlagen bewältigen zu können, ist ein verständnisvolles solidarisches Miteinander zwischen Lehrenden und Studierenden unabdingbar. Nur gemeinsam sind wir stark!
Weitsicht schafft Zuversicht
Die Pandemie wird leider nicht mit dem Wintersemester enden. Daher fordern wir für die kommenden Semester unter pandemiebedingten Einschränkungen zudem die Beachtung folgender Grundsätze:
- Planungssicherheit gewährleisten: Prüfungsformen, Prüfungstermine und deren Alterna-tiven rechtzeitig und transparent kommunizieren!
- Prüfungslast verringern: Prüfungen für Module zusammenfassen!
- Mitbestimmung ermöglichen: Alle Statusgruppen bei der Ausgestaltung der Studien-, Lehr- und Prüfbedingungen einbeziehen!
- Rahmenvorgaben erarbeiten: Für ländereinheitliche Regelungen der Prüfungsbedingungen!
Ein Hybridsemester ankündigen, ein Online-Semester mit sukzessiven Einschränkungen durchführen und bis zuletzt zittern, ob die Prüfungen wie geplant stattfinden können: Das darf nicht weiter der Status quo an den Hochschulen sein! Sowohl für die Lehrenden, die die Prüfungsformate entwickeln und bereits vorher ihre Lehre entsprechend vorbereiten müssen, als auch für die Studierenden, die ihr Semester und die vorlesungsfreie Zeit danach ausrichten müssen, ist Planungssicherheit unerlässlich! Planungssicherheit bedeutet, dass frühzeitig die Prüfungsformen, Prüfungstermine und deren Alternativen feststehen sollten. Nur so kann auch eine reibungslose Bereitstellung notwendiger Infrastruktur seitens der Hochschule ermöglicht werden, die für Studierende mit entsprechendem Bedarf gefordert wird.
Insgesamt sollte eindringlich geprüft werden, welche Prüfungen in der aktuellen Situation wirklich unabdingbar sind. Eine Priorisierung von Prüfungen, der Verzicht auf Prüfungen oder das Zusammenziehen verschiedener Teilprüfungen bzw. die Umwandlung von
Einzelprüfungen in digitale Gruppenprüfungen kann die Prüfungsdichte und Arbeitsbelastung reduzieren und somit auch die dringend notwendigen Zeitfenster zur Vor- und Nachbereitung alternativer Prüfungsformen schaffen. Eine Verringerung der Prüfungslast vor allem im ersten Semester kommt auch den Studierenden entgegen, die unter Online-Bedingungen die Hochschule kennenlernen. Auch aus diesem Grund ist Self-Assesment der herkömmlichen Prüfung vorzuziehen.
Für all diese Forderungen gilt: Die Entscheidungen über die Art ihrer Umsetzung kann nicht ohne die Partizipation aller beteiligten und betroffenen Statusgruppen geschehen! Nur über eine breite Mitbestimmung sind solidarische und demokratische Entscheidungen und Lösungen möglich.
Um dem Flickenteppich der Regularien entgegenzuwirken, halten wir die Erarbeitung länder-einheitlicher Rahmenvorgaben für notwendig, in denen u. a. Vorgaben zu Freiversuchsregelungen, Nachteilsausgleichen und Prüfungsformaten und Prüfungsformalitäten festgelegt werden.
Für einen Strukturwandel im Prüfungssystem
Auch nach der Pandemie kann es kein „Weiter so“ geben! Wir fordern die Hochschulen dazu auf, die Gelegenheit zu nutzen und Prüfungsformate zukunftsgerichtet und innovativ neu zu denken. Hierzu gehört u. a.:
- Neue Prüfungsformen entwickeln: Für Kompetenz- statt Wissensorientierung!
- Self-Assessment in Studieneingangsphase ausbauen: Prüfungsdruck vermindern, Feed-back ausbauen!
- Prüfungssysteme reformieren: Hochschuldidaktisch fundiert die Curricula weiterentwickeln!
Eine Fokussierung auf das Prüfen von Kompetenzerwerb und -transfer würde nicht nur neue Korridore für studienzentrierte Lehre und forschendes Lehren eröffnen, sondern auch fragwürdige Überwachungsmaßnahmen gänzlich obsolet werden lassen. Open-Book oder Take-Home-Klausuren bieten bereits jetzt in der aktuellen Situation neben Methoden des Self-Assessments Möglichkeiten eines feedbackorientierten Lernens und Lehrens.
Lehrende und Lernende sollten darin unterstützt werden, ihre Erfahrungen in die Weiterentwicklung von Curricula und hochschuldidaktischen Konzepten einzubringen. Die aktuelle Krise kann genutzt werden, um das Prüfungssystem an deutschen Hochschulen grundsätzlich zu reformieren und innovative Lehr- und Prüfungsformen zu fördern und umzusetzen. Hochschulen und Länder müssen dafür die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen. Dies ist ohne eine angemessene öffentliche Grundfinanzierung der Hochschulen und die Sicherstellung der Mitbestimmung aller Hochschulangehörigen nicht möglich.