Greifen wir gemeinsam nach den Sternen

Im Rundbrief Nr. 8 (S. 76) wurde der Aufruf „Greifen wir gemeinsam nach den Sternen!“ zum EU-Gipfel vom 9. bis zum 11. Dezember ’94, in Essen veröffentlicht.

1 . Der fzs unterstützt den Aufruf „Greifen wir gemeinsam nach den Sternen!“.

2. Der fzs fordert die Landeszusammenschlüsse der StudentInnenschaften und alle lokalen StudentInnenvertretungen auf, sich für den Aufruf einzusetzen und weitere UnterstützerInnen für diese Erklärung zu gewinnen.

3. Der fzs fordert die StudentInnenvertretungen, die Landeszusammenschlüsse, den Ausschuß der StudentInnenschaften und den Vorstand auf, die Erklärung gegenüber politischen EntscheidungsträgerInnen und in der Öffentlichkeit zu verbreiten.

EU-Gegengipfel in Essen: Greifen wir gemeinsam nach den Sternen!

Aufruf zu Aktivitäten gegen das Gipfeltreffen der Europäischen Union am 9. /10. Dezember 1994 in Essen

Am 9./ 10. Dezember treffen sich die 12 Regierungschefs der Europäischen Union (EU) zu ihrem halbjährlichen Gipfeltreffen. Als Höhepunkt des bundesdeutschen EU-Vorsitzes wird der Stadt Essen die zweifelhafte Ehre zuteil, diesen Akt mit einem kostspieligen Begleitprogramm und aufgeblähtem Medienspektakel auszutragen. Der Essener Gipfel wird sich im wesentlichen mit folgenden Themen beschäftigen:

Unter der Vorgabe, den europäischen Arbeitsmarkt zu fördern, sollen weitere Grundlagen zur Senkung der Lohnkosten und Sozialleistungen sowie zur Beschneidung sozialer Standards geschaffen werden. – Mit dem „Essener Vertrag“ soll die Aufnahme weiterer europäischer Länder in die EU vollzogen werden. Es geht dabei zunächst um Österreich, Schweden, Finnland und Norwegen.

Es geht also um die konsequente Weiterführung des Integrationskonzeptes, das zwei grundlegende Ziele hat: Zum einen soll durch die Herausbildung eines politischen Blockes die weltpolitische Handlungsfähigkeit der EU gestärkt werden. Zum anderen soll die ökonomische Stellung der EU gesichert und ausgebaut werden – durch Sozialabbau und auf Kosten der Dritten Weit, des Ostens und der Umwelt.

Was „Wachstum“ heißt und wo das Soziale bleibt

Im Vordergrund des Binnenmarktes stehen die Konzerne und die Erzielung von größtmöglichen Gewinnen. Das versprochene „Wachsturn“ bezieht sich nur auf Kriterien wie mehr Waren, mehr Umsatz, mehr Produktivität. Jüngstes Beispiel sind die transnationalen Netze (Strom, Verkehr, Kommunikation), welche die Bundesregierung während ihrer Präsidentschaft im EU-Ministerrat bis Dezember auf den Weg bringen will. Fortgesetzt werden die Zerstörung der Umwelt, die Auslagerung von ökologischen und sozialen Schäden des EU-Wirtschaftens in andere Weltregionen sowie die Verbreitung sozialer Ausgrenzung. Mit offiziell 17 Millionen Arbeitslosen war die Erwerbslosigkeit in der EU noch nie so hoch wie im zweiten Jahr des Binnenmarktes. Gewerkschaftlich erkämpfte Rechte werden unterhöhlt, Arbeitsverhältnisse dereguliert. Ungesicherte und prekäre Jobs haben sich explosiv vermehrt und werden nach sexistischen und rassistischen Kriterien zugeteilt: Die dreckigsten und gefährlichsten Arbeiten „dürfen“ Frauen und Einwanderinnen und Einwanderer ausüben. Die Kriterien der Wirtschafts- und Währungsunion setzen eine rigide Sparpolitik und Sozialkürzungen bei den öffentlichen Haushalten voraus. Die BRD hat ihr Konzept von Stabilitätspolitik und DM-Dominanz durchgesetzt. Bei der vermeintlichen „Beschäftigungsinitiative“ setzt die deutsche Präsidentschaft auf die „Selbstheilungskräfte des Marktes“; durch Streichungen von Sozialleistungen sollen die weltweite Konkurrenzfähigkeit und die Profite der EU-Konzerne weiter erhöht werden. Befördert wird dies durch eine Offensive im Bereich der sogenannten“Hochtechnologie“:

  • Der Einsatz gentechnischer Verfahren wird von der EU liberalisiert und durch aufwendige Forschungsprogramme beschleunigt.
  • Neue Atomreaktorlinien sollen europaweit ans Netz gehen.
  • Hochgeschwindigkeitszüge und der Transrapid schlagen neue Trassen durch die Landschaft.

Die EU in der Kontinuität des europäischen Kolonialismus

Die EU-Staaten praktizieren eine aggressive Außenpolitik, die ihnen Rohstoffe, billige Arbeitskräfte im Ausland sichern und den Zugang zu Märkten erzwingen soll. Dies betrifft in erster Linie die Menschen in der „Dritten Welt“, sei es durch die Rohstoffpolitik der EU, die Abschottung gegen Importe oder ihre Unterstützung diktatorischer Regimes. Im neuen Welthandelsabkommen festigte die EU gemeinsam mit den USA und Japan ihre weltwirtschaftliche Herrschaftsrolle. Um die aggressive Außenpolitik auch in Zukunft durchzusetzen, erhält die EU durch den Ausbau der Westeuropäischen Union (WEU) einen eigenen militärischen Arm, der überall in der Welt intervenieren können soll. Schon im Golfkrieg 1991 operierte eine europäische Flotte unter einem WEU-Kommando. Und da die Türkei assoziiertes Mitglied der WEU Ist, ist die EU auch faktisch kriegführende Partei in Kurdistan. Einzelne Mitgliedsländer beteiligen sich durch Waffenlieferungen und Finanzhilfen am Vernichtungskrieg des türkischen Staates gegen die Kurdinnen und Kurden.

Formierung der EU nach innen und Abschottung nach außen

Zur Stabilitätssicherurig nach innen dient der Aufbau einer europäischen Polizei und eines europaweiten Informationssystems. Ziel ist insbesondere die Kontrolle derjenigen, die vor den weltweiten Auswirkungen der EU-Politik nach Europa flüchten wollen. AusländerInnen und Flüchtlinge werden ausgegrenzt, kriminalisiert und als billige Arbeitskräfte ausgenutzt. Die sogenannten „Nicht-EU-BürgerInnen“ werden weiterhin zu Menschen zweiter Klasse gemacht. Die angeblichen „Grundfreiheiten“ des Binnenmarktes wie Freizügigkeit der Binnenmarktspersonen gelten z.B. für sie nicht.

Die EU als Herrschaft der Wenigen

Das Konzept der EU hat ein unübersehbares Defizit in Sachen Demokratie. Die Entscheidungen werden vom Ministerrat getroffen, das Europäische Parlament und sogar die Parlamente der Mitgliedsstaaten sind zweitrangig. Die Regierungen als Exekutive in den Mitgliedsstaaten machen sich als EU-Legislative die Gesetze, die sie uns dann als EU-Sachzwang verkaufen. Dort betreiben sie aktiv die EU-Politik und hier erklären sie sich als nicht mehr zuständig. Legitimation und Kontrolle dieser Strukturen sind kaum möglich.

Großmacht BRD in der EU und nicht trotz der EU

Was die BRD betrifft, so bedeutet die EG / EU keineswegs deren Einbindung in eine europäische Friedensordnung. Die EG verhalf der BRD vielmehr von Anfang an dazu, zum miliarisierten NATO-Mitglied zu werden. Nicht trotz, sondern mittels der EU verfolgt die BRD ihre Großmachtpolitik. Zweifellos verfügt die BRD über eine führende Rolle in der EU. Die Einführung der Währungsunion – Sitz der Europäischen Zentralbank wird Frankfurt – wird diese Rolle stärken, ebenso der Beitritt Österreichs zur EU. Es gibt schon länger Stimmen, die am alten „Mitte-Europa-Konzept“ anknüpfen und den deutschen Sprachraum zum entscheidenden Machtblock in der EU ausbauen wollen. Auch Vorstellungen von einem „Kerneuropa“ zielen auf die Stärkung einer deutschen Führungsrolle.

Die EU übernimmt all die negativen Merkmale des Nationalstaates, seien es Repression und Normierung nach innen oder Agressivität nach außen. Internationalistische Kritik an der EU richtet sich daher gleichermaßen gegen einzelstaatlichen Nationalismus, wie gegen europäischen Chauvinismus. Unsere Solidarität hört nicht an den Grenzen „Europas“ auf, sondern verbindet sich mit denen, auf deren Unterdrückung die Festung Europa gegründet ist.

Greifen wir gemeinsam nach den Sternen!

Gegen das Abfeiern dieser EU-Politik auf dem Gipfeltreffen in Essen wollen wir unseren Protest lautstark auf die Straße tragen. Es ist an der Zeit, unsere Perspektiven gegen dieses Europa zu entfalten. In diesem Sinne rufen wir zu einem EU-Gegengipfel in Essen und zu Aktionen zur EU-Ministerratstagung vom 9. Bis 11. Dezember 1994 auf!

Beschlossen auf der 2.MV in Rostock, November 1994