Positionspapier zum Stipendiensystem in Deutschland

Einleitung

Der Ausbau des Stipendiensystems in Deutschland ist eine Forderung vieler AkteurInnen im Bildungsbereich. Die Forderungen nach einer Weiterentwicklung des deutschen Hochschulsystems orientieren sich am Stipendienmodell nach US-amerikanischem Vorbild, welches eine Finanzierung der Hochschulen über deutlich höhere allgemeine Studiengebühren als in Deutschland und die Förderung so genannter begabter Studierender über die Vergabe von Stipendien vorsieht.

Der freie zusammenschluss von studentInnenschaften (fzs) setzt sich für eine öffentliche Bildungsfinanzierung und eine Förderung aller Studierenden nach deren finanziellem Bedarf ein. Eine Breitenförderung berücksichtigt den hohen Bedarf an gut Ausgebildeten und verhindert eine Auswahl der Studierenden nach finanziellem und sozialem Hintergrund. Eine Erweiterung des Stipendiensystems und ein Abbau der Breitenförderung folgen dagegen hegemonialen Interessen und (re-)produziert eine handverlesene Elite. Das Stipendiensystem soll dem Grunde nach die fachlich Begabten und Leistungsfähigen fördern. Diesem Ziel wird das Stipendiensystem weder in Deutschland noch in anderen Ländern gerecht. Die Verteilung der Stipendien weist soziale Ungleichheiten sowohl hinsichtlich des Geschlechts als auch der sozialen Herkunft auf.

Stipendien fördern soziale Ungleichheiten

Diese Ungleichverteilung von Stipendien ist offensichtlich nicht den objektiven Fähigkeiten geschuldet. Die Auslese innerhalb der Stipendiensysteme erfolgt auf zwei Ebenen. Zum einen werden Leistung und/oder Begabung als Maßstäbe angelegt, um Kriterien zur Auswahl festzulegen. Auf operationaler Ebene sind Menschen beteiligt, die eine Auswahl umsetzen. Auf beiden Ebenen sind Fehlentwicklungen festzustellen, die zum sozialen Ungleichgewicht bei der Stipendienvergabe führen. Laut der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage im Bundestag (Drucksache Nr. 16/4849) sind unter den StipendiatInnen lediglich 25 Prozent, die ein Vollstipendium erhalten. Demgegenüber stehen 42 Prozent, die nur ein Büchergeld erhalten und deren Eltern demnach über ein ausreichendes Einkommen verfügen. Nach dem Studierendensurvey der AG Hochschulforschung Konstanz erhalten von den Studierenden aus der ArbeiterInnenschaft lediglich 2,1 Prozent ein Stipendium. Der Anteil steigt mit der sozialen Herkunft. Aus der AkademikerInnenschaft kommend erhalten demgegenüber 5,2 Prozent der befragten Studierenden ein Stipendium, also ein doppelt so hoher Anteil. Die Leistung, gemessen am Notendurchschnitt, ist im Ergebnis nicht ausschlaggebend für die Stipendienvergabe. Im Gegenteil, mit steigender Note sind die sozialen Unterschiede besonders ausgeprägt. Unter den Leistungseliten (Notenschnitt 1,0 – 1,4) erhalten 7 Prozent aus der ArbeiterInnenschaft, aber 14 Prozent aus der AkademikerInnenschaft ein Stipendium. Hinzu kommt, dass der Anteil Studierender aus niedrigen sozialen Schichten an den Hochschulen ohnehin schon sehr gering ist. Sowohl aus der Anfrage an die Bundesregierung als auch aus dem Studierendensurvey zeigt sich eine Benachteiligung von Frauen. Dem Studierendensurvey nach erhalten nur 2,9 Prozent der Studentinnen, jedoch 4,5 Prozent der Studenten ein Stipendium. Unter den Leistungsbesten erhöht sich diese Differenz auf 5,2 Prozent. Diese Zahlen stellen zum einen die Objektivität der Auswahlkriterien in Frage, zum anderen sind schon von vornherein viele Studierende von einem Stipendium ausgeschlossen. Es liegt nahe, dass sich Studierende aus bildungsfernen Schichten sowie weibliche Studierende seltener auf ein Stipendium bewerben. Von vornherein ausgeschlossen sind ältere Studierende und Studierende höheren Semesters.

Sozial selektive Auswahlverfahren

Die Benachteiligung von Studierenden bzw. die Bevorzugung anderer Studierender beruht zudem auf ungleiche Behandlung in Auswahlverfahren, insbesondere durch Auswahlgespräche. Die Mechanismen lassen sich mit dem Habituskonzept von Bourdieu erklären und sind durch sozialwissenschaftliche Studien klar belegt. Die Auswahlgremien sind in der Regel mit Menschen aus der oberen sozialen Schicht besetzt. Dazu zählen beispielsweise ProfessorInnen, UnternehmerInnen, PolitikerInnen. Es ist anzunehmen, dass diese Gremien ebenso wie in anderen gesellschaftlichen Leitungspositionen überwiegend mit Männern besetzt sind. Politisches, gesellschaftliches und soziales Engagement wird nur als Leistung gewertet, wenn es den Vorstellungen der auswählenden Personen entspricht und beispielsweise institutionalisiert stattgefunden hat. Und auch ehrenamtliches Engagement braucht Zeit, die Studierende, die sich selbst finanzieren oftmals nicht haben. Aus ähnlichen Anerkennungsmechanismen wie bei Auswahlverfahren erhalten benachteiligte Studierende seltener Empfehlungsschreiben von ProfessorInnen. Für ein Stipendium bei der Studienstiftung des deutschen Volkes bedarf es sogar einer Nominierung durch die Schulleitung.

Einflüsse externer Interessen steigen

Die StipendiengeberInnen, seien es private, staatliche oder eine der politischen Stiftungen, nehmen Einfluss auf die StipendiatInnen. Diese Einflussnahme besteht darin, dass oft bestimmte Fächer gefördert werden, für das Promotionsstipendium ist es sogar üblich nach dem Thema der Promotion auszuwählen. Hinzu kommt die Verpflichtung an Veranstaltungen teilzunehmen. Dazu gehören Sommerakademien und die Teilnahme an StipendiatInnentreffen. Zum einen wird damit Einfluss auf den individuellen Studienverlauf genommen, zum anderen aber auch auf die Inhalte des Studiums. Damit soll eine frühzeitige Bindung an die Institutionen erreicht werden. Die Vorgaben zur Einhaltung des Studienverlaufsplanes erhöhen den Leistungs- und Konformitätsdruck. Ein freies und selbstbestimmtes Studium wird dadurch gefährdet.

Stipendien reproduzieren herrschende Interessen

Die herrschenden Klassen haben ein Interesse daran, die bestehenden Verhältnisse aufrecht zu erhalten. Ein Stipendiensystem fördert eine Reproduktion dieser Verhältnisse, so z.B. über die Weitergabe von Werten und Erfolgskriterien. Genauso wie es nicht intendiert ist, dass Menschen aus den unteren Schichten in die leitenden Positionen gelangen, ist es nicht das Ziel Frauen und weitere strukturell benachteiligte Gruppen in ausreichendem Umfang zu fördern. Die ungleiche Verteilung bei der Stipendienvergabe zeigt diesen Missstand deutlich auf. Der StipendiatInnenanteil ist in der Medizin, gefolgt von den Rechtswissenschaften am höchsten. In den Naturwissenschaften liegt er auf einem mittleren Niveau, das Schlusslicht bilden die Geisteswissenschaften. Die Förderung von Studierenden folgt damit einem Trend, der ebenso wie die Förderung der Fächer an sich, mehr Standesinteressen und weniger gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissen folgt.

Studiengebührenstipendien

Mit der Einführung von Studiengebühren gibt es an zahlreichen Hochschulen Bestrebungen, Stiftungen zur Vergabe von Stipendien zu etablieren. Ein Anteil oder das gesamte Stiftungskapitals wird aus Studiengebühren finanziert. Dazu ist festzustellen, dass das Geld der Studierenden in keinem Falle dazu verwendet werden darf, so genannte „begabte“ Studierende zu subventionieren. Betrachtet man die sozial ungleiche Verteilung bei der Stipendienvergabe, führt dies im Endeffekt sogar zu einer Umverteilung von unten nach oben. Aus diesen Gründen sind Studiengebührenstipendien abzulehnen. Der fzs fordert daher alle StudentInnen auf, sich nicht an der Vergabe solcher Studiengebührenstipendien zu beteiligen.

Stipendien können staatliche Studienfinanzierung nicht ersetzen

Der fzs fordert eine bedarfsdeckende, elternunabhängige und vor allem rechtlich garantierte Studienfinanzierung für alle Studierenden. Dies deckt sich nicht mit den vorhandenen Stipendienmodellen. Daraus, dass das BAföG seit 2001 nicht mehr angepasst wurde und gleichzeitig die Fördergelder für Stipendien um 19 Mio. Euro für das Jahr 2007 erhöht wurden, zeigt sich, wo die Präferenzen der Bundesregierung liegen. Wir fordern ein Umdenken bei der Studienfinanzierung und eine Anerkennung der ausgeführten Fakten.