Kapazitätsrecht in Deutschland

Von Jonas Bens

In der aktuellen politischen Debatte um Reformen der Hochschufinanzierung und -struktur wird von vielen Seiten eine tiefgreifende Reform des seit Anfang der siebziger Jahre geltenden Kapazitätsrechts gefordert. Dieser Artikel soll in aller Kürze die Geschichte und Grundidee der so genannten Kapazitätsverordung (KapVO) darstellen, Einblicke in die aktuellen Debatten um deren Reform geben und Leitfragen aufwerfen, wie studentische Positionierung zum Kapazitätsrecht aussehen könnte.

Hintergrund für die Einführung der Kapazitätsverordnung

Bis Anfang der Siebziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts oblag die Auswahl von StudienanfängerInnen und der Erlass von Studienzugangsvoraussetzungen der Autonomie der Hochschulen bzw. teilweise den Landesgesetzgebung. Ende der Sechziger Jahre ergaben sich erstmals aufgrund steigender AbiturientInnenzahlen ein Überhang an StudienanfängerInnen. Infolge dessen wurden an verschiedenen Hochschulorten Zulassungsbeschränkungen abhängig von der Abiturdurchschnittsnote – der so genannte Numerus Clausus (NC) – eingeführt. Hierbei ergab sich die Situation, dass die Zulassungszahlen auf Grund unterschiedlicher Rechtsgrundlagen nach unterschiedlichen Berechnungs- bzw. Schätzmethoden ermittelt und festgelegt wurden. Aufgrund von Klagen Studierender, die keinen Studienplatz erhielten, fällte schließlich das Bundesverfassungsgericht am 18. Juli 1972 ein Grundsatzurteil zum Numerus Clausus. Darin stellt das Verfassungsgericht fest, dass „das Grundrecht auf freie Wahl des Berufs und der Ausbildungsstätte […] in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip ein Recht auf den Zugang zum Hochschulstudium [begründet], das nur […] dann eingeschränkt werden kann, wenn alle vorhandenen Ausbildungskapazitäten erschöpfend genutzt und alle „hochschulreifen“ Bewerber eine Chance erhalten würden.“

Das höchste Gericht entschied zudem, dass der Numerus Clausus als Einschränkung des Grundrechtes auf Zulassung zum Hochschulstudium nur auf Grund eines Gesetztes einzuschränken sei. Diesem Gesetzesvorbehalt kam der Gesetzgeber noch im gleichen Jahr nach. Der Bundesgesetzgeber verzichtete seinerzeit auf ein Bundesrahmengesetz zum Hochschulzugang, sodass die Bundesländer 1972 im Rahmen der Kultusministerkonferenz (KMK) einen Staatsvertrag über die Vergabe von Studienplätzen abschlossen. Dieser Vertrag sah den Erlass einer Kapazitätsverordnung (KapVO) vor, der die Berechnung von Studienplätzen regelte sowie einer Vergabeverordnung (VergVO), welche die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Verteilung dieser berechneten Studienplätze vorschrieb. Die Bundesländer haben diese beiden Rechtsverordnungen mit im Wesentlichen gleichen Wortlaut jeweils als Landesrecht erlassen.

In diesem Rahmen wurde die Dortmunder Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) eingerichtet. Sie koordinierte die Verteilung von Studienplätzen in bundesweit zulassungsbeschränkten NC-Fächern. Der NC durfte erst dann in Kraft treten, wenn die jeweiligen Fächer ihre Kapazitäten maximal ausgeschöpft hatten. Die knappen Plätze wurden dann nach verschieden gewichteten sozialen und Leistungskriterien (wie der Abiturdurchschnittsnote) verteilt. Gegebenenfalls kamen die Bewerber auf eine Warteliste, auf welcher sie aufrücken konnten.

Curricularnormwert-Modell, Bandbreiten-Modell, Vereinbarungs-Modell

Im Wesentlichen beruht die KapVO trotz zahlreicher Veränderungen der letzten Jahrzehnte auf einem so genannten Curricularnormwert-Modell. Hierbei wird für jeden Studiengang ein verbindlicher Curricular-Normwert (CNW) errechnet, der den Betreuungsbedarf, mit anderen Worten den Personalaufwand pro Studierendem angibt. Der angenommene Betreuungsbedarf hängt von der Zahl der Vorlesungen, Seminare und Prüfungen ab. Je größer also die Anzahl von Veranstaltungen, desto höher der Personalaufwand, desto höher folglich auch der CNW. Schließlich werden alle zur Verfügung stehenden Deputatsstunden der Lehrenden in dem Studiengang durch den CNW geteilt. Heraus kommt die Zahl der Studienplätze, die besetzt werden müssen.

Ein von vielen Akteuren gefordertes Bandbreitenmodell sieht vor, die CNWe so zu verändern, dass diese an verschiedenen Hochschulorten unterschiedlich hoch sein können und sozusagen im Durchschnitt den von der KapVO geforderten Normwerten entspricht. Dies hätte für Bundesländer den Vorteil Wettbewerb zwischen den Hochschulen teilweise zu ermöglichen und somit Hochschulstandorte zu befähigen sich gegenüber anderen dahingehend abzugrenzen, dass sie in bestimmten Fächern unterhalb der von der KapVO geforderten Studierendenzahlen bleiben können; in der Hoffnung, so die Betreuungsrelation zwischen Studierenden und Lehrenden zu verbessern.

In eine ähnliche Richtung geht die Forderung nach einem Vereinbarungsmodell. Hierbei würde das Land die Frage Studienplatz-Kapazitäten in einer Zielvereinbarung mit den einzelnen Hochschulen regeln. Ein erster Schritt ist hierbei mit der neuen Hochschulgesetzgebung beispielsweise in Nordrhein-Westfalen schon getan, wobei Zielvereinbarungen zwischen Land und Hochschule über Fragen der Mittelzuweisung bereits obligatorisch sind.

Das Curricularnomwert-Modell in der Kritik

Das Verfahren der Curricularnormwerte steht seit Jahren aus verschiedenen Gründen in der Kritik. Die Komplexität der Berechnungsmethode führt zu Intransparenzen. In Zeiten leerer Wissenschaftsetats neigte die KMK dazu, die CNW-Formel dahingehend zu verändern, dass mehr Studierende von den Hochschulen aufgenommen werden mussten.

Die von neoliberalen Kreisen der Hochschulpolitik erhobene Forderung nach mehr Wettbewerb zwischen den Hochschulen wird in einem wichtigen Punkt durch die Kapazitätsverordnung unterbunden.

„Selbst wenn etwa eine Hochschule schließlich das Recht erlangen würde, sich irgendwann 100% ihrer StudienanfängerInnen selbst auszuwählen, wäre ihr nach geltender Rechtslage immer noch vorgeschrieben, wie viele Studierende sie aufnehmen müsste.“

Die KapVO macht es nämlich für die Hochschulen unmöglich, eine Verbesserung der Betreuungsrelation zwischen Lehrenden und Studierdenden dadurch zu erreichen, dass die Hochschule die Zahl der StudienanfängerInnen bei gleichem personellen Angebot enger begrenzt. Denn durch die KapVO besteht eine Kopplung zwischen personellen Lehrkapazitäten und Aufnahmeverpflichtung seitens der Hochschule.

Dies hat zur Folge, dass die bisher eingeführten Modelle zur Hochschulfinanzierung über Studiengebühren stets vorsehen müssen, die Einnahmen aus Studiengebühren nicht in Dauerstellen zu investieren, was dann automatisch in die Steigerung des CNW und damit die Steigerung der Anzahl ihrer zu garantierenden Studienplätze zur Folge hätte. Damit, so sieht es der Studiengebühren einführende Landesgesetzgeber, könne man nicht der Verbesserung der Lehre dienen. Ein Beschluss der Hochschulrektorenkonferenz zum Thema offenbart das Interesse der Hochschulen, die Einnahmen durch Studiengebühren wesentlich flexibler zu nutzen, was durch das bestehende Kapazitätsrecht eingeschränkt wird.

„Schließlich ist in jüngster Zeit durch die Einführung von Studiengebühren bzw. Studienbeiträgen in mehreren Bundesländern auch die Finanzierung der Hochschulen neu und flexibler gestaltet worden. Die Hochschulen könnten, wenn die Einkünfte ihnen zur eigenen Verfügung verbleiben, über deutlich größere Gestaltungsmöglichkeiten im Bereich der Lehre verfügen. Es kommt deshalb entscheidend darauf an, den rechtlichen Rahmen so zu definieren, dass diese Gestaltungsfreiheiten nicht durch zulassungs- und kapazitätsrechtliche Vorgaben ausgehöhlt werden.“

In diesem Rahmen argumentiert auch das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) der Bertelsmann Stiftung, die Vorreiterin einer neoliberalen Hochschulreform:

„Es wäre politisch gegenüber den Studierenden sehr schwer kommunizierbar, dass die von Ihnen gezahlten Gebühren nicht für eine Verbesserung ihrer Studienbedingungen eingesetzt werden dürften, sondern für die Schaffung weiterer Studienmöglichkeiten für andere verwendet wer müssten. Insofern ist es mehr als wünschenswert, dass auf einem der beiden Wege bald ein solches klärendes Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts zustande kommt.“

Hier wird klar, dass die Existenz der KapVO momentan größtes Hemmnis in einem ungezügelten Wettbewerb zwischen den Hochschulen ist, sowohl was die flexiblere Ausnutzung von Drittmitteln und Studiengebühren in Bezug auf die Schaffung von Lehrkapazitäten angeht, als auch die Möglichkeit über die Reduktion der Studierendenzahlen und damit verbesserten Betreuungsrelationen Profilbildung in der Lehre zu betreiben.

Der Wissenschaftsrat argumentiert hierbei folgendermaßen: „Beispielsweise könnte an einer Hochschule in einem bestimmten Studiengang stark forschungsorientierte Lehre nur einem kleinen Kreis an Studierenden zugänglich sein, während an einer anderen Hochschule der freie Zugang zu einem ähnlichen Studienangebot als Wettbewerbsvorteil in Anspruch genommen wird.“

Auf diese Art und Weise könne ein „Zielkonflikt“ ausgeglichen werden, „der zwischen der Forderung nach Profilierung durch die Auswahl der besten Studienanfänger und der Forderung nach Erhöhung der Absolventenzahlen durch möglichst hohe Bildungsbeteiligung der jungen Generation auftreten kann.“

Mit anderen Worten hieße dies, dass forschungsorientierte Hochschulen mit strengen Auswahlverfahren durch geringe Studierendenzahlen und gute Betreuungsrelationen im Markt hervorstechen könnten. Hierbei wälzten sie ihre gesetzlich vorgeschriebenen Kapazitäten auf solche Hochschulen ab, die schnelle, verschulte und personalarme Lehre anbieten, sich aber im Gegenzug – sozusagen als Marktvorteil – durch geringere Zulassungsvoraussetzungen auszeichnen. Also durch die Entkoppelung von Lehrangebot und Aufnahmeverpflichtung wird ein weiteres Wettbewerbsinstrument eingeführt, dass dafür sorgt, dass einige wenige Hochschulen Spitzenlehre anbieten können, während die breite Masse der Hochschulen – schon allein aus gesetzgeberischer und politischer Notwendigkeit – diese Studienplatzkapazitäten auf Kosten des personellen Lehrangebots auffangen müssten; und zwar mit niedrigen bis freien Zulassungsbeschränkungen, um überhaupt noch marktfähig zu sein.

Schlüsse aus der Debatte und Leitfragen studentischer Positionierung

„Die sogenannte KapVO ist ein besonders grausames Relikt der Bildungsexpansion der Siebziger, ein Stück Planwirtschaft, das es bis in die Gegenwart von Exzellenzinitiative und Bologna-Reform geschafft hat.“

Dieses Zitat aus der Wochenzeitung DIE ZEIT aus dem September des Jahres 2007 macht deutlich mit welcher Heftigkeit die Debatte um die Abschaffung der KapVO derzeit geführt wird. Der Bundesgeschäftsführer des Bundes Demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BDWi) macht in einem Artikel zum Thema deutlich:

Man sieht es dieser Forderung [nach der Abschaffung der KapVO] in ihrer technokratischen Blässe und Beiläufigkeit nicht an, dass gerade dieser Ansatz – so zumindest meine These – der entscheidende Hebel zur Umwälzung des traditionellen Hochschulsystems, wie es sich in den letzten 30 Jahren entwickelt hat, sein könnte.

Tatsächlich ist der These Bultmanns nur zuzustimmen. Aus studentischer Perspektive gestaltet sich der von neoliberalen Kreisen der Hochschulpolitik vielgepriesene Wettbewerb zwischen den Hochschulen als ein Wettbewerb nach unten. Bei einer Aufhebung sind die hochschulpolitischen Akteure von Seiten der HRK und des CHE entschlossen einen Wettbewerb hin zu einer Zweiklassen-Hochschullandschaft letztlich konsequent zu vollziehen. Denn nur mit vollständiger Kontrolle über die Zulassung von Studierenden zum Hochschulbetrieb ist es möglich Eliteuniversitäten mit exzellenten Betreuungsverhältnissen und hohen Studiengebühren gänzlich von schlecht ausgestatteten Lernfabriken abzugrenzen.

Bandbreiten- und Vereinbarungsmodelle werden diese Diversifizierung ermöglichen, indem sie teilweise starke Unterschiede in den Kapazitätsregelungen zulassen können. Hierbei ist ein verfassungsrechtlicher Konflikt entbrannt. In einer Publikation des CHE wird dieser Kampf um die grundgesetzliche Meinungshoheit offensiv begonnen:

Eine Überwindung des tradierten Systems der Kapazitätsermittlung und -planung in rechtlicher Sicht scheint nur durch ein neues Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichtes möglich. Vor dem Hintergrund der veränderten Rahmenbedingungen und Paradigmen der Hochschulpolitik und -steuerung (Stichworte: Hochschulautonomie, internationaler Wettbewerb, stärkere Qualitätsorientierung), entsprechender verfassungsrechtlicher Gutachten (Kluth 2001, Hailbronner 2004) und einschlägiger Urteile auf verwaltungsgerichtlicher Ebene (OVG Berlin 2004) stehen die Chancen gut, dass ein solches Urteil heute anders als 1972 ausfallen würde.

Die Studentische Interessenvertretung muss sich darüber im Klaren sein, dass die Verteidigung der KapVO mit CNW-Modell eine politisch komplizierte Angelegenheit ist. Denn unleugbar handelt es sich bei dem Modell um ein bürokratisches Monster, das auch aus studentischer Sicht aufgrund seiner Inntransparenz und der Möglichkeit Kapazitäten jenseits realer Verhältnisse zu veranschlagen in der Realität keineswegs Garant für eine ausreichende Ausfinanzierung von Studienplätzen war und ist.

Allerdings ist keine Alternative in Sicht, die ein Auseinanderdriften der Hochschullandschaft auf Kosten der Breitenbildung und ausreichender Studienplatzzahlen gewährleisten kann. Fundierte studentische Positionierungen, die die Frage von Kapazitätsberechnungen aus Sicht einer sozial ausgewogenen und auf Breitenbildung ausgerichteten Perspektive beleuchten, wären gerade in der momentanen politischen Situation nötiger denn je.

Hierbei sollte sich die studentische Interessenvertretung an folgenden Leitfragen orientieren:

  • Besteht tatsächlich ein Bedarf an einer flexibleren Ausgestaltung des Kapazitätsrechts? Wenn ja, wie kann dennoch gewährleistet werden, dass weiterhin eine Kopplung von Lehrkapazitäten und der Pflicht zur Gewährleistung von Studienkapazitäten besteht?
  • Wie kann die Forderung einer bundeseinheitlichen Regelung der Kapazitätenfrage vor dem Hintergrund der Föderalismusreform I und II glaubwürdig aufrechterhalten werden?
  • Welche Steuerungsinstrumente können entwickelt werden, um im Bildungsföderalismus gewährleisten zu können, dass landesweite Kapazitätsregelungen nicht zu einem föderalen Wettbewerb nach unten führen?
  • Wie kann es gelingen bei der Frage der Kapazitätsverordnung aus einer Argumentation der Rechtfertigung bestehender Fehler hin zu einer proaktiven Forderung nach einem sozial gerechten Modell der Kapazitätsgewährleistung zu kommen?
  • Welche Modelle – auch auf der Ebene von Berechnungsmethodik – sind in einem Normwertverfahren anzuwenden, um ein sozial gerechtes Modell der Kapazitätsgewährleistung zu entwickeln?

Auf diese Leitfragen gibt es keine schnellen und leichten Antworten. Die lange nur einseitig geführte Debatte um Kapazitätsrecht benötigt dringend glaubwürdige Alternativen studentischer Interessenvertretung. Momentan zögern die Landesregierung die KapVO alternativlos abzuschaffen aus Furcht die Hochschullandschaft nicht rückholbar zu verändern und Studienplatzkapazitäten einzubüßen, die vor dem Hintergrund geburtenstarker Jahrgänge besonders schmerzhaft vermisst würden. Hier bieten sich Ansatzpunkte für eine progressive Reform des deutschen Kapazitätsrechts, statt einer Reform des Abbaus von Studienplätzen. Hierbei liegt noch viel Detailarbeit vor studentischer Interessenvertretung, die gerne die detaillierte Debatte mit den kalten Zahlen scheut. Sie sollte sie dennoch wagen.

Jonas Bens ist Mitglied im Ausschuss Hochschulfinanzierung und -struktur des fzs. Er studiert an der Universtät Bonn Rechtswissenschaften und Ethnologie und war im dortigen AStA Referent für Hochschulpolitik und stellvertretender AStA-Vorsitzender. Er ist wissenschafts- und forschungspolitischer Sprecher des Landesvorstandes der LINKEN.NRW.

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe 3/2007 des fzs:magazin (Oktober 2007).