10 Thesen zur Berücksichtigung sozialer Aspekte bei der Studienstrukturreform

Aus Sicht des fzs gilt es insbesondere die folgenden Punkte zu beachten:

1. Stark reglementierte Studien- und Prüfungsordnungen treiben die Selektion strukturell benachteiligter Gruppen voran.

Die aktuelle Studienstrukturreform soll im Sinne der sie voran treibenden Kräften zu einer Vereinfachung des Studienablaufes und der Studienplanung führen. Der modulare Aufbau von Studiengängen als zentraler Aspekt der Reform wird durch klar vorgegebene Semesterpläne und durch weitere Angebote wie beispielsweise eine frühzeitige Online-Anmeldung ergänzt. Diese Planungen gehen jedoch von einem unrealistischen Bild der StudentInnen aus und berücksichtigen nicht, dass viele von ihnen von Faktoren wie Hochschulwechsel, Nebenerwerbstätigkeit, Kindererziehung, fehlenden Sprachkenntnissen oder besonderen Bedürfnisse aufgrund von Krankheit oder Behinderung betroffen sind. Im Rahmen der mit der Studienstrukturreform verbundenen strikten Studienplanung führen diese Faktoren aber zu einem deutlichen Mehraufwand. Dieser ist meistens nicht oder nur schwer zu quantifizieren.Durch eine striktere Reglementierung und Planung des Studiums kann die (wünschenswerte) Steigerung der kulturellen Heterogenität der StudentInnen ebenfalls aus dem Blick geraten. Dies bedeutet eine weitere Benachteiligung der ohnehin schon strukturell diskriminierten Gruppen.Ein plastisches Beispiel dafür, wie sich die angeblichen Vereinfachungen in ihr Gegenteil verkehren, ist die Modularisierung. Tatsächlich wird es immer schwieriger, Module zwischen verschiedenen Hochschulen anrechnen zu lassen, sich einen Stundenplan mit mehreren Modulen aus unterschiedlichen Fächern, die alle aus mehreren Lehrveranstaltungen zusammen gesetzt sind, zusammen zu stellen etc. Ziel ist aus Sicht des fzs ein selbstbestimmtes Studium. Die Möglichkeit zu einer flexiblen Studiengestaltung seitens der Studierenden ist dafür notwendig, aber noch nicht hinreichend. So soll beispielsweise die Verantwortung für eine erfolgreiche Studiengestaltung nicht allein den StudentInnen überlassen werden, vielmehr müssen die Hochschulen auch weiterhin in die Verantwortung genommen werden, Lehrangebote so zu gestalten, dass das Studium in einer bestimmten Zeit abgeschlossen werden kann. Der fzs wendet sich entschieden gegen die Aushebelung der ursprünglichen Intention der Regelstudienzeit.Er ruft Hochschulen und Landesregierungen dazu auf, die Neuverabschiedung von Studien- und Prüfungsordnungen dazu zu nutzen, dass bestehende soziale Diskriminierungen abgebaut werden.

2. Im Rahmen der Studienreform müssen Beratungsangebote auf- und nicht abgebaut werden

Notwendige Übergangsphasen, aber auch die Art der neuen Formen der Studienorganisation, erfordern einen deutlichen Ausbau bestehender Beratungsangebote der Hochschulen. Genau diese Beratungsangebote drohen bei der jetzt praktizierten Umsetzung des Bologna-Prozesses dem Spardiktat zum Opfer zu fallen. Dies führt aus Sicht des fzs zu einer Verschärfung der sozialen Selektivität: Ohne die erforderlichen Beratungs- und Orientierungsangebote sind gerade diejenigen benachteiligt, denen eine anfängliche Orientierung in der Hochschule und deren Umgebung besonders schwer fällt.

3. Der Hochschulzugang darf nicht durch neue Lehr- und Lernformen eingeschränkt werden

Prinzipiell als positiv zu wertende neue Lehr- und Lernformen sind nur sinnvoll umsetzbar, wenn zur Umsetzung notwendige zusätzliche Mittel bereit gestellt werden. Weniger und dafür teurere Lehrveranstaltungen schrauben die Kapazitäten ansonsten nach unten und gewährleisten weniger Studieninteressierten einen Zugang zur Hochschule.

4. Die Durchlässigkeit im Studienverlauf muss ausgeweitet werden, anstatt noch weitere Hürden – beispielsweise durch eine strukurell vom übrigen Studium getrennte Studieneingangsphase oder durch Zulassungsbeschränkungen zum Masterstudium – zu errichten.

Anstatt neue Hürden zu errichten, muss der Übergang von der Schule zur Hochschule durch gezielte Unterstützung wie einführende Lehrveranstaltungen, das Angebot von MentorInnenprogrammen oder eine umfassende Beratung erleichtert werden. Der Studienverlauf muss durchlässig bleiben, d.h. der Bachelor darf nicht zum Regelabschluss werden.

4.1 Übergang von der Schule zur Hochschule

Vielerorts wird geplant, eine strukturell (nicht notwendig inhaltlich) vom übrigen Studium getrennte Orientierungsphase bzw. Kollegstufe einzuführen. Schon heute bieten viele Hochschulen „Schnupperstudien“ an, die Studieninteressierten die Studienentscheidung und den Übergang von der Schule an die Hochschule erleichtern sollen. Um jungen Menschen bei der Aufnahme eines Studiums tatsächlich wirksam eine Hilfestellung zu bieten, müssen solche Orientierungsphasen aus Sicht des fzs folgende Bedingungen erfüllen:

  • Die Studieninteressierten können alle Lehrveranstaltungen der Hochschule frei, d.h. völlig unabhängig der Fachrichtungen, wählen und kombinieren.
  • Die Angebote müssen darauf ausgerichtet sein, Unsicherheiten abzubauen und u.U. kompensatorischer Art sein. Die Angebote haben zum Ziel, die StudentInnen zur tatsächlichen Aufnahme eines Studiums zu motivieren und einen möglichen Studienabbruch zu verhindern. In keinem Fall dürfen, z.B. durch überzogen dargestellte Leistungsanforderungen, Abschreckungseffekte entstehen. Bestehende Unsicherheiten (bereits feststellbar bei Frauen gegenüber naturwissenschaftlich-technischen Studiengängen, aber auch beispielsweise eines ArbeiterInnenkindes gegenüber einem Medizinstudium) würden so verstärkt.
  • Sie müssen durch Tutorien und MentorInnenprogramme flankiert werden.
  • Sie dürfen andere Beratungs- und Informationsangebote nur ergänzen und niemals ersetzen.
  • Den StudienanfängerInnen muss die Möglichkeit gegeben werden, bereits in dieser Phase Leistungsnachweise erwerben zu
  • Falls Leistungsnachweise erbracht werden, sollten sie für das „reguläre Studium“ angerechnet werden.
  • Für den Übergang ins eigentliche Studium ist ausschließlich der Wunsch zur Studienaufnahme der StudentInnen ausschlaggebend, nicht etwa die in der Orientierungsphase erzielten Leistungen.
  • Den StudentInnen wird genügend Raum geboten, alle Beratungs- und Informationsangebote der Hochschule zu nutzen.
  • Sie dürfen nicht offiziell als fort- oder weiterbildende Veranstaltung mit den möglicherweise damit verbundenen Gebühren gelten.

Werden diese Bedingungen nicht berücksichtigt, wird die Orientierungsphase zu einem „Studium auf Probe“, das kein unterstützendes Angebot für StudentInnen darstellt, sondern die Möglichkeit einer gezielten Selektion bereits nach dem ersten oder zweiten Semester bietet. Schlimmer noch als beim Übergang vom Bachelor zum Master stehen die StudentInnen in diesem Fall ohne jegliche Zertifizierung da.

4.2 Durchlässigkeit während des Bachelor-Studiums

Mit der Einführung der neuen Studienstrukturformen werden Zwischen- und Abschlussprüfungen weitestgehend obsolet, jedoch führt dies nicht selten dazu, weitaus mehr Leistungsnachweise als bisher vermehrt über Klausuren zu vergeben. Der fzs kritisiert diese Praxis, denn es ist hier nicht ersichtlich wie die Studierenden dieses erhöhte Prüfungspensum bewältigen sollen. Vielerorts ist die Umsetzung der neuen Studiengänge derart verantwortungslos, dass dieselbe Anzahl an Prüfungsleistungen, die zuvor in durchschnittlich 8 Semestern zu erbringen waren, nun innerhalb von 6 Semestern abgelegt werden müssen. Dies läuft nicht selten auf eine gezielte Selektion schon während des Studiums hinaus: Denn vor allem in der Studieneingangsphase wird geplant bzw. ist bereits umgesetzt, von eben diesen vermehrten Prüfungen zu Studienbeginn teilweise die Weiterführung des begonnenen Studiengangs abhängig zu machen. Hier stehen viele Studierende ohne Zertifizierung in ihrem gewünschten Studienfach da und sind gezwungen, sich umzuorientieren. Desweiteren leistet diese Praxis aufgrund der Verunsicherung der Studierenden einem vorzeitigen Studienabbruch Vorschub. Der fzs fordert deshalb die Verantwortlichen in den Hochschulen dazu auf, mit der Umstrukturierung im Rahmen der neuen Bachelor-Master-Studiengänge deutlich sensibler umzugehen, dies gilt besonders hinsichtlich der Gefahr vorzeitiger Studienabbrüche.

4.3 Übergang vom Bachelor zum Master

In der aktuellen politischen Diskussion werden zusätzliche Hürden beim Übergang vom Bachelor zum Master forciert. Der fzs hält jegliche Auswahlverfahren zwischen Bachelor und Master für falsch und fordert daher für alle Bachelor-AbsolventInnen die Möglichkeit, ein Master-Studium aufnehmen zu können.

5. Für den gesamten Studienverlauf muss eine bedarfsdeckende Finanzierung vorhanden sein

Ohne eine bedarfsdeckende Studienfinanzierung bis zum Masterabschluss ist die Durchlässigkeit im Studienverlauf nur eine Illusion. Bisher sind StudentInnen nur bis zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss BAföG-förderungsberechtigt. Für einen Master können StudentInnen nur dann eine Förderung erhalten, wenn dieser auf den Bachelor aufbaut – also konsekutiv ist. Die in der Folge fehlende Studienfinanzierung hindert dann gerade StudentInnen aus einkommensschwachen Familien an der Aufnahme eines Masterstudiums. Besonders fatal wird die Situation, wenn Masterstudiengänge kostenpflichtig angeboten werden. Neben den Kosten zur Finanzierung des Lebensunterhaltes kommen dann noch die geforderten Studiengebühren. Der freie zusammenschluss von studentInnenschaften fordert Bund und Länder deshalb dazu auf, eine generelle Gebührenfreiheit sowie eine bedarfsdeckende Studienfinanzierung bis mindestens zum Masterabschluss (unabhängig von der Konsekutivität) sicher zu stellen.

6. Die Möglichkeit zur Mobilität muss gefördert werden, darf aber nicht zum Zwang werden

Als ein Pluspunkt der neuen Studienstrukturen wird stets deren „Internationalität“ hervorgehoben. Selbstverständlich ist es wünschenswert, die Studienstrukturreform an ihrer Mobilität auszurichten. Hier ist es erforderlich, dass die Hochschulen vor allem finanziell schlechter gestellten Studierenden die Teilnahme an Auslandsaufenthalten und Mobilitätsprogrammen ermöglichen. Der fzs weist in diesem Zusammenhang jedoch nachdrücklich darauf hin, dass aus diesem Vorteil kein Zwang zur Mobilität abgeleitet werden darf. Werden beispielsweise Auslandsaufenthalte in Studien- und Prüfungsordnungen integriert, leistet dies Diskriminierung Vorschub. Mithilfe einschlägiger Studien kann bereits heute nachgewiesen werden, dass bei Studienaufenthalten im Ausland Abschreckungseffekte bestehen. So sind StudentInnen mit bildungsferner Herkunft oder auch StudentInnen mit Betreuungspflichten deutlich weniger geneigt, das Risiko eines Auslandaufenthaltes einzugehen. Generell sind solche Erfordernisse eher an das Idealbild der „NormalstudentInnen“ geknüpft.

7. Jede Arbeitsleistung muss auch bezahlt werden.

An immer mehr Hochschulen wird darüber diskutiert, die im Rahmen von ehrenamtlichen Engagement erworbenen Kenntnisse bei der Anrechnung von Studienleistungen in den Studienordnungen zu berücksichtigen. Grundsätzlich ist dieser Ansatz zu begrüßen. Er darf jedoch nicht dazu führen, dass von StudentInnen unentgeltliche „Praxiserfahrungen“ gefordert werden. In vielen Studienordnungen sind (Berufs-)Praktika bereits obligatorisch festgeschrieben. Auch ist es nicht tolerierbar, dass StudentInnen im Hauptstudium zur Abhaltung von Tutorien für StudentInnen im Grundstudium qua Studienordnung verpflichtet werden, wie es an einigen Hochschulen diskutiert wird bzw. bereits umgesetzt ist. Die Abhaltung eines Tutoriums und die Ableistung eines (Berufs-)Praktikums sind Arbeitsverhältnisse, die tarifvertraglich geregelt werden müssen. Wenn die Abschlüsse nur durch unbezahlte Praktika erreicht werden können, führt das zu Diskriminierungen von vor allem finanziell schlechter gestellten StudentInnen und auch StudentInnen mit Betreuungspflichten. Denn wer neben dem Studium arbeiten muss oder Kinder erzieht, ist nicht in der Lage, solche Anforderungen erfüllen zu können. Der fzs kritisiert deshalb Planungen dieser Art scharf.

8. Gezielte Förderung von Benachteiligten, auch durch Nachbesserung bestehender Anreizsysteme

Viele Prüfungsordnungen sehen Anreizsysteme in Form von Freischussregelungen etc. vor. Damit wird oft versucht, auf ein zügiges Studium hinzuwirken. Das Muster ist dabei immer das Gleiche: Wer nach herrschender Logik „erfolgreich“- also in wenigen Semestern – studiert, profitiert von den bisherigen Anreizsystemen. Damit kommen sie in ihrem aktuellen Ausrichtung überwiegend den ohnehin Privilegierten zugute. Wer Kinder erzieht, neben dem Studium erwerbstätig ist, aus einer bildungsfernen Schicht stammt oder eine chronische Krankheit oder Behinderung hat wird trotz teilweise vorhandener Sonderregelungen oder Anrechnungsmöglichkeiten mehr Zeit für das Studium benötigt und somit weniger in den Genuss der Anreizsysteme in ihrer bisherigen Ausrichtungen kommen. Somit baut dies keine Benachteiligung und Diskriminierung ab. Anreizsysteme müssen stattdesen geziehlt zur Förderung strukturell Diskriminierter umgestaltet. Der fzs fordert Bund, Länder und Hochschulen dazu auf.

9. Ein Studium muss frei von diskriminierenden Sanktionsmechanismen sein

Neben den oben diskutierten Anreizsystemen ist im Rahmen der Studienstrukturreform auch eine Ausweitung von Sanktionsmechanismen zu beobachten. Typische Sanktionsmechanismen sind die Vergabe von so genannten Maluspunkten (z.B. bei nicht bestandenen Modulen, bei zu geringer Teilnahme an Lehrveranstaltungen, bei unkonventioneller Studienplangestaltung etc.), automatische Prüfungsanmeldung nach einem bestimmten Semester, automatische Exmatrikulation bei nicht bestandenen oder nicht erfolgten Prüfungen, Einschränkung des Fachrichtungswechsels, Ende der BAföG Förderung, Gebühren bei Überschreiten einer bestimmten Semesterzahl oder ein höherer Semesterbeitrag nach einer bestimmten Semesteranzahl. Betroffen sind davon vor allem die StudentInnen, die nicht unter die Kategorie der „NormalstudentInnen“ fallen. Für sie wird das Studium massiv erschwert; darüber hinaus wird durch den aufgebauten Druck und die Angst, nicht zu bestehen, wirksam von einem Studium abgeschreckt. Schon jetzt wirken sich bestehende Unsicherheiten bei vielen Studieninteressierten dahingehend aus, dass sie, obwohl in der Regel mit guten bis sehr guten Noten aus dem Abitur kommend, eher von einer Studienaufnahme absehen. Wenn es ein gesellschaftspolitisches Ziel sein soll, für möglichst viele junge Menschen auch und gerade durch eine akademische höhere Ausbildung Chancengleichheit, gesellschaftliche Teilhabe und sozialen Aufstieg zu ermöglichen, müssen die geplanten Sanktionsmechanismen grundsätzlich kritisiert werden. Der fzs setzt sich deshalb für die Abschaffung solcher Sanktionsmechanismen ein.

10. Zwingende Exkursionen sind versteckte Studienkosten

Vor allem im Rahmen von Austauschprogrammen sind Exkursionen ins Ausland, mit nicht selten teurem Flug und Unterkunft, jetzt schon Realität an vielen Hochschulen. Desweiteren sind mehrtägige Exkursionen Bestandteil zahlreicher Studienordnungen. Aus Sicht des fzs handelt es sich hier um „versteckte“ Studienkosten, für die die StudentInnen selbst aufkommen müssen. Gerade strukturell benachteiligte StudentInnen werden gezwungen, auf weniger attraktive und leichter finanzierbare Angebote zurückzugreifen. Zwingende Exkursionen im Rahmen der neuen Bachelor/Master-Studiengänge würden diese Kosten noch weiter in die Höhe treiben. Ansonsten ist dies auf keinen Fall hinnehmbar.

Beschlossen auf der AS-Sitzung in Köln, März 2005